von Annika Thöle, II Platz
Ich krame panisch in meinem Rucksack. Fluchend leere ich den Inhalt meiner Tasche auf dem Boden aus, aber er ist nicht da. Mein Schlüssel ist weg. Ich rüttle an dem Griff, obwohl ich weiß, dass sich die Tür ohne meinen Schlüssel nicht öffnen wird.
Türen können Eingänge zu Zimmern, Wohnungen aber auch neuen Welten sein. Neue Welten, die durch kleine Schlüssel besucht werden können. Verliert man diese Eintrittskarte, hat man zwei Möglichkeiten. Man kann aufgeben und aufhören, in fremde Welten zu reisen. Die andere Variante ist es, sich einen Ersatzschlüssel zu besorgen. Dafür muss man den Schlüsseldienst holen und sich von diesem helfen lassen, denn viele Grenzen lassen sich ohne die Hilfe von anderen nicht überwinden. Liebe, Kreativität, Empathie, all das hat seine Grenzen. Selbst wenn man es möchte, kann man sich nicht ansatzweise vorstellen, was in anderen Menschen vorgeht. Aber nur weil etwas Grenzen hat, heißt das nicht, dass man diese nicht überwinden kann. Es heißt nur, dass dieser Prozess etwas mehr als nur nichts tun erfordert.
Ich trete vor mein Haus, um die Zeit zu überbrücken. Ein Regentropfen fällt mir auf mein Gesicht. Er rinnt mir kühl über die Wange, wie eine Träne fühlt er sich an. Alle Menschen sehen aus, als würden sie weinen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, schwer fühlt es sich an, weil meine Gummistiefel drücken. Die Stimmung ist ebenso gedrückt, das Leben fühlt sich nicht lebenswert an. Ich gehe meinen Weg vor mich hin, Schritt für Schritt tragen mich meine Füße über den kühlen Asphalt, entlang an fremden Gesichtern. Manche schauen auf den Boden, andere auf ihr Handy. Wenige nur schauen mir in das Gesicht und ein noch kleinerer Teil davon schenkt mir ein Lächeln. Ich setze meinen Weg fort und grüble über diesen Zustand nach. Warum lächeln mich die Menschen nicht an? Ein Lächeln kann doch so viel bewirken. Wir haben die Macht andere Menschen durch nichts anderes als ein kleines Lächeln, diesen ebenfalls eines zu entlocken. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Ich hebe meinen Kopf und lächle. Jeder und jedem ins Gesicht. Viele erwidern es nicht, andere hingegen schon. Das ist in Ordnung. Mir wird langsam kalt, ich drücke meine Jacke eng an meinen Körper und drehe mich um, bereit den Heimweg anzutreten. Unbekanntheit. Ich weiß nicht, wo ich bin.
Ich habe keinen guten Orientierungssinn. Manchmal werde ich von anderen als Sonnenschein bezeichnet und es kommt mir tatsächlich oft so vor, als würde ich mich von meiner Lebensfreude blenden lassen. Ich gehe nicht durchs Leben, ich hüpfe, am liebsten irgendetwas hinterher. Einem Schmetterling, einer schönen Melodie oder einem besonderen Menschen. Viel zu oft bin ich deswegen an Orten gelandet, die ich nicht zum Ziel hatte. Allerdings durfte ich dort Menschen finden, die mir nicht nur den Weg zurück gezeigt haben, sondern ihn mit mir gegangen sind. Menschen, die vor Hindernissen nicht umgekehrt und den falschen Weg zurückgelaufen sind, sondern die mir einen Weg daran vorbei gezeigt haben.
Mittlerweile kann ich mich an den Rückweg erinnern. Ein Regentropfen fällt auf mein Gesicht. Er rinnt mir kühl über die Wange, wie eine Freudenträne fühlt er sich an. Alle Menschen sehen aus, als hätten sie stundenlang gelacht. Ich setze einen Schritt vor den anderen, schwer fühlt es sich an, weil meine Gummistiefel drücken. Ich schleudere sie von meinen Füßen und setze meinen Weg tanzend fort, schweben ist leichter als gehen. Vor meiner Wohnung angekommen, erwartet mich der Schlüsseldienst. Er mustert mich; meine nackten Füße, meine nassen Klamotten. Er schenkt mir ein Lächeln, das wärmer ist, als es Sonnenstrahlen je sein könnten und übergibt mir meinen Schlüssel.
Ich bin nicht mehr panisch, wenn ich meinen Schlüssel verliere. Warum? Weil ich weiß, dass Schlüssel ersetzbar sind. Menschen, die diese einem übergeben, hingegen nicht.
Eine Träne läuft mir warm über das Gesicht, wie ein kleiner Regentropfen fühlt sie sich an. Wenn ich an mein bisheriges Leben, an alle daran beteiligten Menschen, zurückdenke, dann wird es mir ganz warm ums Herz. Ich habe angefangen Sonnenstrahlen an Sonnentagen zu sammeln und diese ganz tief in mir aufzubewahren, für schlechte Zeiten. Auf keinen Fall möchte ich sie verschwenden, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass dieses Leuchten zu hell ist, um es zu verbergen. Dass ich strahle, aufgrund der schönen Erinnerungen, die sich in meinem Herzen befinden. Auch an Regentagen, diese wird es immer geben. Mit dem Unterschied, dass der Himmel dann nicht mehr grau und traurig aussieht. Denn wie jeder weiß, entsteht ein Regenbogen dann, wenn Sonnenschein und kleine Regentropfen aufeinandertreffen.
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