Die Kiste

von Sinnnix, III Platz

Auf einmal war alles weg gewesen. Die Sofas mit dem dunkelgrünen Samtbezug, der Elefant aus Porzellan,

die Kristallgläser, zumindest das Set mit dem blauen Rand. Von allen ihren Sachen hatte Else das wichtigste heraussuchen müssen.

Am schwersten war ihr das mit den Fotos gefallen.

Von tausenden von Bildern, die 50 Jahre ihres Lebens dokumentierten, hatte sie nur ein paar hundert mit ins Heim nehmen können.

„Die guckst du dir sowieso nie an“, hatte ihre Tochter gesagt.

„Von wegen, guck’ ich mir sowieso nicht an“, murmelte sie nun vor sich hin, während sie versuchte, die Kiste aus ihrer Garderobe zu hieven.

In der befand sich, was der Umzug ihr von ihrem Ehemann gelassen hatte.

Fotos aus Ägypten, Griechenland, Rom und Paris. Einige Bilder auch von den Kindern als die noch klein gewesen waren. Porträts, auf denen sie mit kleinen Schaufeln in der Hand über den Strand liefen. Else hatte sich Sorgen gemacht, Sand und Wasser könnten die Kamera beschädigen. Ihr Mann hatte sie trotzdem mit an den Strand genommen, denn er hatte gemeint, alle Menschen seien schöner am Meer.

Endlich, nach mehreren, zittrigen Anläufen war es ihr gelungen, die Kiste auf ihr Bett zu befördern. Sie war aus Mahagoni und liebevoll gearbeitet.

Else fuhr mit dem Finger die Maserung nach und fühlte ihr Herz schneller klopfen. Manchmal, wenn sie diese Bilder herausnahm, fühlte es sich an, als wäre sie wieder dort, bei ihm.

Sie griff nach dem Schlüssel und fand ihn nicht. Wie kann das sein, fragte sie sich, wo er doch immer im Schloss gesteckt hatte? War er beim Umzug verloren gegangen? Hatte ihn vielleicht einer dieser Möbelpacker eingesteckt, weil er dachte, er sei wertvoll?

Else war zum Weinen zumute. Dabei hatte sie doch nur diese verdammte Kiste öffnen wollen.

Heftig atmend, griff sie zum Telefon. Dreimal vertippte sie sich, bevor sie es schaffte, die Nummer zu wählen.

„Hallo Mama, ich hab gerade zu tun, sag schnell, was gibt’s?“, meldete sich ihre Tochter am Apparat.

„Ich finde den Schlüssel zur Kiste nicht“, sagte Else.

„Welche Kiste?“

„Die Kiste mit den Schnörkeln.“

„Was ist denn da drin?“

„Die Fotos.“

„Du, ich habe gerade keine Ahnung was du meinst und ich muss jetzt hier weitermachen, ich ruf` dich später nochmal an, ja?“

„Ja, alles klar, bis dann.“

„Scheiße“, zischte sie, als sie das Telefon in seinen Ständer stellte. Was sollte sie jetzt machen?

Else suchte nochmal das Bett ab, ging zur Garderobe, strich mit der Hand über deren Boden. Es half nichts, der Schlüssel blieb verloren.

Vielleicht hatte ihn auch eine der Pflegerinnen mitgehen lassen, die ihr Zimmer aufräumten, schoss es ihr durch den Kopf.

Der Verdacht ließ sie nicht mehr los. Des nachmittags beim Kaffee schilderte sie Annegret den Vorfall.

Annegret war eine gedrungene Dame Ende siebzig, mit orange gefärbten Haaren, die den Blumengarten des Altenheims pflegte und das trotz ihrer Gicht.

„Den hast du bestimmt verloren, warum sollte denn jemand einen Schlüssel klauen?“, sagte die.

„Vielleicht hast du recht, aber die Kiste ist trotzdem zu“, bemerkte Else.

„Ja, da habe ich vielleicht das passende Gerät für.“

Als Annegret mit Hebelwerkzeug vor Elses Tür auftauchte, war die skeptisch.

Doch Annegret meinte, es gäbe keinen anderen Weg, so ohne Schlüssel und schließlich glaubte Else ihr.

Nach einem gemeinsamen Espresso setzten sie das Werkzeug an.

„Das schöne Mahagoni“, hörte Else sich noch einmal aufbegehren.

„Willst du sie nun öffnen oder nicht?“, fragte Annegret.

„Ja, doch.“

„Gut, dann eins und zwei und …“, mit einem lauten Knall, brach das Schloss.

Der Rückstoß warf Else zu Boden.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Annegret sie, Else bejahte. Die Fotos lagen jetzt überall im Raum verstreut.

Gerade hatte Annegret ihr aufgeholfen, da klopfte es plötzlich an der Tür. Else öffnete, lugte hinaus und sah sich mit Tatjana, einer Pflegerin, konfrontiert.

„Hier hat es geknallt, ich dachte, ich sehe mal nach, was los ist“, sagte die.

„Wir sind hier schon fertig, sie können ruhig hereinkommen“, rief Annegret von hinten und Else musste sie wohl oder übel hereinlassen, wenn sie nicht unhöflich wirken wollte.

Kaum war sie eingetreten, hatte Tatjana auch schon begriffen. Sie stemmte die Arme in die Seiten und schmunzelte. „Sie mögen Fotos wohl sehr gerne“, sagte sie. Aber Else achtete schon nicht mehr auf Annegret oder Tatjana. Sie war dabei, die Fotos aufzuklauben, die über dem Boden verstreut worden waren. Dabei musste jedes mit Blicken geliebkost werden, bevor sie es in die Kiste einsortierte. So merkte sie auch nicht, wie Tatjana sagte, dass sie etwas holen wolle.

Als Tatjana etwas später wieder auftauchte, hatte sie eine Polaroid-Kamera dabei. Damit machte sie Bilder von Else, Annegret und dem Hebelwerkzeug. Die ersten neuen Bilder, die ihren Weg in Elses Kiste finden sollten.

Foto: www.pixabay.com

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