Von Anna Soleil, I Platz
Ich habe die Verbindung nach draußen verloren. Schon seit ein paar Tagen tobt in meinen Ohren betäubend laut ein Sturm. Kalte Winde strömen durch meine Adern und überziehen meine ohnehin schon zum Zerreißen gespannte dünne Haut mit einer schmerzhaften Gänsehaut der Sorge. Seit geraumer Zeit nähert sich meine Zimmerdecke bedrohlich langsam meinem Kopf. In meinen eigenen vier Wänden fühle ich mich hilflos und klein, während vor meinen Fenstern freundlich warme Sonnenstrahlen locken. Vor ein paar Tagen hat es aufgehört zu regnen, doch prasseln Regentropfen weiter unaufhörlich meine Wangen hinab. Ein dichter Nebel verschleiert meine Augen und so kann ich die warmen Sonnenstrahlen nicht sehen. Zusammengekauert an der Wand neben meinem Bett umklammere ich meine Knie und möchte mit dem harten Zimmerboden verschmelzen, verschwinden in der Starre des hellbraunen Holzes.
Da durchdringt ein Vogelruf das Dröhnen des Sturms in meinen Ohren. Ein fröhlicher, heller Schrei. Ich hebe meinen Kopf und blinzele in das warme Sonnenlicht, welches sich schon seit einigen Tagen so sehr bemüht, meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Hinter den mit wintergrauem Staub bedeckten Fensterscheiben meines Zimmers schimmern zarte Frühlingsfarben. Mit zitternden Beinen richte ich mich auf und greife nach dem Fenstergriff. Ich möchte sehen, was sich dahinter verbirgt, möchte erfahren, woher die Frühlingsfarben kommen.
Mit einem leichten Ruck stoße ich das Fenster meines Zimmers und gleichzeitig das zu meinem Herzen auf. Frische Luft strömt in Form einer leichten Brise hinein. Ich atme tief ein und fülle meine Lungen mit neuem Leben.
Unter mir breitet sich ein frischgrüner Teppich aus und ohne lange darüber nachzudenken, klettere ich auf das Fensterbrett, schließe meine Augen und lasse mich fallen. Samtweiches Gras federt meinen Sturz ab.
Warme Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase und ich öffne meine Augen. Noch benommen von der Dunkelheit meiner eigenen vier Wände brauche ich einen Moment, bis ich die Konturen der neugeborenen Natur wahrnehmen kann.
Der frischgrüne Teppich breitet sich weiter aus, als ich es von meinem Fenster aus erahnen konnte. Noch etwas schüchterne Gänseblümchen blitzen zwischen Grashalmen hervor, durchbrechen das satte Grün des schier unendlichen Teppichs. Zwei Zitronenfalter flattern noch etwas ziellos umher, als könnten sie noch nicht recht glauben, dass die Kälte tatsächlich vorbei ist. Aus dem Winterschlaf erwachte Bäume erstrecken sich am Horizont, recken ihre Äste dem Himmel entgegen, als wollten ihre zarten Knospen dem warmen Licht der Sonne auf schnellstem Wege näherkommen.
Diese Lebensfreude macht mich neugierig und so eile ich ihr mit ungewohnt leichten Schritten entgegen.
Unter dem schützenden grünen Blätterdach angekommen, bleibe ich stehen. Eine sanfte Ruhe überfällt mich und ich lasse sie gewähren. Anders würde ich kaum das beinahe hypnotisch beruhigende Rauschen der Blätter hören, welches meinen Ohren nach dem schmerzhaften Sturm eine angenehme Erleichterung bietet. Melodische Vogelgesänge mischen sich in das sanfte Blättergeflüster.
Die warmen Sonnenstrahlen bahnen sich einen vorsichtigen Weg durch das grüne Blätterdach und werfen mosaikförmige Schattenspiele auf den von kühler Härte befreiten Waldboden. Bei jeder noch so kleinen Regung der leichten Frühlingsbrise tanzen sie einen sanften Reigen und formieren sich zu immer neuen Gebilden.
Während ich den verträumten Bewegungen der Lichtschattentänze zusehe, fällt mir mit einem Male auf, dass die Sorgen verschwunden sind. Hier draußen verspüre ich keine schmerzhafte Gänsehaut, keine Hilflosigkeit, keinen Winterstaub, der meine Seele bedeckt.
Stattdessen fühle ich eine unbändige Freude in mir aufsteigen. Ich möchte mit den Schattenspielen zur Musik der gefiederten Frühlingsboten tanzen und so breite ich meine Arme aus und lasse mich von dem sanften Windhauch treiben. Ich drehe und drehe mich im Kreis, bis das Grün der Wälder und Gelb der Sonne vor meinen Augen verschwimmen.
Schwindelig von Tanz und Freude lasse ich mich gegen den starken Stamm eines Baumes gelehnt auf dem Waldboden nieder. Weich wie ein Kissen bietet das Moos unter mir ein schützendes Bett. Ich schließe die Augen und lasse die Melodie des Waldes auf mich wirken. Sie lässt das beängstigende Rauschen des Sturms vergessen.
Die zarten Frühlingswinde vertreiben all meine Sorgen.
Die warmen Sonnenstrahlen prickeln liebevoll auf meiner Haut. Vergessen ist die schmerzhafte Gänsehaut.
Ich lasse meine Finger über das frische Moos streichen. Es lässt mich spüren, dass dort Leben ist; Leben, das von mir entdeckt werden möchte. Hier unten, unter dem weiten Blätterdach, fühle ich mich frei. Frei von allem, was vor kurzem noch mein Herz zuschnürte. Der Wald gibt mir in jedem seiner Atemzüge das Leben zurück.
Ich habe meine Verbindung zur Welt wieder.
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„Die Melodie des Waldes“ veranschaulicht auf wunderbare und eindrucksvolle Weise, wie die Natur Kraftquelle und Schlüssel zur Welt sein kann.