Von Ema C.
Es war Herbst, die schönste Jahreszeit in Sarajevo.
Ich auf einem Stuhl, sie daneben im Bett. Ihr Körper ist still, wie eingeschlafen. Auch wie jeden Tag dieses verdammten Monats. Schwache Sonnenstrahlen belichten durch das Milchglas des Fensters meinen Weißkittel. Totenstille. Ihre Hand auf dem Bettlaken. So ruhig, wie gelähmt. Verblasste Haut voller kleiner Fältchen überzieht, wie ein Zelt, baumartig verzweigte, dunkle Blutadern. Knochen hervortretend. Zarte Muskeln fast unsichtbar, erschöpft. Keine einzige Bewegung. Gestochene Nadel in graziler, abgemagerter Hand reflektiert das Licht.
Auf dem Finger zwei Ringe. Dünn, aus weißem Gold. Einer mit kleinem Stein. Entsprachen ihrer Einfachheit. Ich habe ihre Hand nie ohne Ringen gesehen. Triumphierende Liebe über Religion und Familie. Wir sprachen darüber nicht.
Mit dieser Hand ging ich zum ersten Mal in den Kindergarten, später in die Schule und sie folgte mir bis ganz zum Studium. Sie tröstete, zeigte die Richtung und löste meine Ängste und Zweifel. Diese Hand kochte Suppe, die jede Krankheit heilte. Ich fragte mich, wie eine Hand gleichzeitig Sicherheit, aber auch Freiheit geben kann. Hoffnung aber auch Ernüchterung.
Oft studierte ich die Hand im Atlas der Anatomie und konnte sie stolz, mit Faszination sogar auf Lateinisch beschreiben, aber wusste kaum, was diese Hand hier überleben musste.
Krebs. Chemotherapie. Mastektomie. Zehn Jahre.
Ich marschierte täglich voller Ungewissheit durch den dunklen Flur, der zu ihrem Zimmer im Erdgeschoss des alten Gebäudes führte. Dieser Tunnel, der stark nach Desinfektionsmittel roch und widerhallte von dem Klappern der Frühstücksteller, löste in mir Beklemmung aus. Ich wusste kaum, was mich erwarten würde. Sie erkannte mich seit ein paar Tagen fast nicht mehr. Ich wollte zurück. Auf einem Haufen von raschelnden, blutroten und orangen Blättern liegen, und den Himmel betrachten. Ich erforschte meine Seele, aber konnte diese Einsamkeit, die mich plötzlich erfasste, nicht verstehen.
An diesem Tag wachte ich schwer auf. Schlafen bedeutete sowieso nur ein paar Stunden vor dem Sonnenaufgang. Ich wollte egoistisch zu Hause bleiben, denkend, dass diese Belastung nicht mehr zu ertragen ist. Trotzdem.
Haupteingang. Flur. Zimmer. Leere.
Der Arzt erklärte alles und gab mir eine kleine Plastiktüte mit einer weißen Linie, so eine wie die, in die man oft kleine, rundliche Tabletten packt. Durchsichtiges Plastik mit zwei Ringen. Dünn, aus weißem Gold.
Ich hoffte so oft, dass ich träumte. Dass die Kälte, die ich spürte, von draußen kam. Wie ein heftiger Wind, der goldene Blätter in Strudel setzte. Ich wusste nicht, dass ich auch dabei in gewisser Weise sterben würde.
Ich suchte sie überall. In der Umarmung der anderen, im gefrorenen Essen, das sie immer im Kühlschranke behielt, in Büchern, in Düften.
Ich war so wütend, dass die Erinnerungen so schnell verblassten. Sie entfernte sich jeden Tag ein Stück weiter von mir. Ich wollte sie unbedingt behalten, und war froh, sie unerwartet in meinem Traum zu sehen.
Jahre später erschien mir plötzlich die Hand meiner Mutter, die ich im Krankenhaus stundenlang beobachtet hatte, und hoffte, dass sie mich endlich umarmen würde. Dieser Anblick entsetzte mich. Aber ich kannte diese Hand, die vor mir war. Jede Geste und jede Narbe waren mir bekannt.
Und dabei erinnerte mich an meinen Großvater, der sagte, dass wir alle etwas von den Verstorbenen erben müssen.
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