Auf der Spur von Moses

Unser Bus fährt die ganze Nacht hindurch von Kairo nach St.Catherine. Der Mond hängt über dem Golf von Sues. Der Ausläufer des Roten Meeres schimmert im Mondschein. Hat Moses auch diesen Weg genommen? Verrückt, dass wir gerade nach einer Schießerei dort hingehen. Eine Sicherheitskontrolle nach der anderen. Irgendwann fallen mir die Augen zu.  Nur ab und zu erwache ich für Sekunden, das leise Summen der Motoren, das ferne Raunen der Stimmen, schwammige Lichter in der Dunkelheit. Und Augen wieder zu, und weiter in die Nacht hinein, in die Vergangenheit hinein.  Moses Flucht und die Israeliten und das Meerwunder: Das Wasser teilte sich, die Israeliten gelangten trockenen Fußes ans andere Ufer. Als ich schließlich aufwache, ist es draußen hell. Sieben Uhr morgens. Wo ist das Meer?  Nichts zu finden. Die rosafarbigen kahlen Bergen laufen endlos auf beiden Seiten der Autobahn. 

Der Bus hält in einem Camp am Fuß der Berge. Ab hier müssen wir zu Fuß gehen. Zwei Kamele tragen unser Gepäck. Eine fast drei Stunden lange Wanderung entlang eines steilen und engen Wegs. Zumindest sammelt die untergehende Sonne die Hitze zurück. Jemand flucht und bittet um eine Pause. Unsere zwei Beduinen Reiseführer, Mousa und Ibrahim, laufen wie Affen in ihren Sandalen. Meine Wanderschuhe sind nicht so gut wie ihre Sandalen. An einer Stelle zieht mich Mousa nach oben, und Ibrahim stützt mich mit seinen Schultern von unten. Endlich haben wir das Ziel erreicht, ein Haus aus Stein, dahinter ein Garten. „Wir schlafen im Garten,“ erklärt Mousa.  „Oh Gott, nicht im Haus. Wie kann man draußen schlafen?“, denke ich. Aber ich bin so todmüde, dass ich nach dem Essen sofort in meinem Schlafsack im Traumland versinke.

Der frische Wind und das Zwitschern der Vögel wecken mich auf. Ich rutsche aus dem Schlafsack. Ein Mandelbaum breitet seine Äste und Blätter über meinem Kopf aus. Ich pflücke eine Nuss, kaue sie. Sie schmeckt anders als die Mandeln im Geschäft. Bitter, süß und saftig. Der Geschmack erinnert mich an die erste Mandel, die ich als Kind gegessen habe. Die anderen schlafen noch. Ich schweife durch den Garten. Feigenbäume, Weintrauben, Maulbeerbäume, Hagedorn, Granatäpfel. Hinter dem Garten schießen Felsen aus gigantischen Steinen in die Höhe. Ich klettere einen bis nach oben und sehe weitere unzählige Felsen hintereinander.  Schläfrig geht die Sonne auf.  Die Welt ist in Schatten und Licht getrennt. Die orangen Felsen im Licht und die dunkelbraunen Felsen im Schatten.  Schritt für Schritt verdrängt das Licht die Schatten, die Hitze die Kälte. Ein Tristramstar gleitet zwischen den Felsen, pfeift einen langen  melodischen Gesang, „Cherleeeo“, der im Berg hallt.  Seine kastanienfarbiges fleckiges Gefieder glänzt, wenn er seine schwarzen Flügel ausbreitet und schlägt. In meiner Nähe auf einem Stein, liegt eine Sinai-Agame, ein großer Leguan, reglos auf dem Bauch. Behaglich genieße sie die Morgensonne.  Größer als meine Faust, blickt sie in die Ferne wie ein Neugeborenes.  Ihr dreieckiger Kopf schimmert in Blaugrün und sieht wie der Kopf eines kleinen Marsmenschen aus. Sein Körper ist braungrün mit lichtgrünen Pünktchen. Eine dünne Hälfte ihres langen Schwanzes hängt in der Luft, regungslos. Der kalte Stein, auf dem ich sitze, ist erwärmt.  Unter mir in der Ferne ist eine Frau mit ihren Schäfern unterwegs. Die Sonne leuchtet auf ihrem Kopftuch und dem Fell des Tiers. Ein Gefühl meiner Nichtigkeit im Vergleich zu der Sonne, den Bergen und den Tieren überwältigt mich. Vielleicht hat Moses auch auf dieser Art die Zehn Gebote von Gott erfahren? 

Die Leute bewegen sich schon und ich rieche frischgebackenes Brot. Ich rutsche nach unten und habe Bärenhunger. Nach dem Frühstück gehen wir bergauf. Felsen in verschieden Formen ragen auf dem Weg empor, ein Mond, ein Elefant, zwei Verliebte, ein Bär und ein Kamel. Orangenbäume, Olivenbäume, Walnussbäume, Apfelbäume, Birnenbäume wachsen überraschend zwischen den Felsen auf dem scheinbar kahlen Berg. Braun, Orange, unterschiedliche Grün, Rosa, Rot, Blau, Weiß, Gelb, Violette, so ein Bild von Farben kann nur Vincent van Gogh malen. Auf jedem Baum wird ein Band mit Namen an einen Ast gebunden. Die Jebeliya Beduinen haben die Bäume in freier Wildbahn pflanzt. Im Laufe der Jahre gehören die Bäume zum Berg. Zwischen den Rissen des Felsens sprießen Pfefferminze, Oregano, Habark (Wilde Minze). Wasser fließt durch Kräuter und sammelt sich in einem kleinen Teich.  Ibrahim füllt unsere Flaschen mit Wasser. Ich schöpfe das Wasser mit meinen Händen und trinke. Er nimmt einen Zweig des Habarks und wirft es in meine Wasserflasche. „Das ist das beste Wasser der Welt!“, sagt er voller Stolz. Dann sitzt er schweigend am Teich und raucht. An diesem Abend kann ich nicht schlafen, weil Millionen Sterne über mich leuchten. Ich warte bis eine Sternschnuppe über mir vorbeifliegt und mache meine Augen zu. Moses ist hier mit mir.  Ich bin auf seinen Spuren.

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