Von den Panzern

von Gregor Oldenburg

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Neben uns rollen die schweren Panzer. Für uns fühlt es sich an, als wehre sich die Erde, auf der die Panzer rollen, gegen die Panzer, die auf ihr rollen. Aber jeder Widerstand, noch so groß er sein mag, wird überrollt. Es ist egal, ob dort hinten ein kleiner Hügel versucht, mit aller Macht den Weg zu versperren oder ob ein gefrorener Acker sich gegen die Panzer auflehnt. Selbst ein kleiner, starrer Körper schafft es nicht, die Panzer aufzuhalten. Auf den Panzern sitzen wir alle. Einige hier, die anderen dort. Wir alle rollen in dieselbe Richtung. Es ist, als verschwinde alles, was wir hinter uns lassen. Was mehr als 5 Meilen weg ist, existiert nicht mehr. Höchstens im Kopf. Aber auch nur bei manchen.

Ich denke immer noch an Paul, der da irgendwo in seinem Kinderwagen liegen muss. Aber das ist schon mehr als 5 Meilen her. Wir bekommen bittere Schokolade, damit wir nicht so einen Hunger haben. Ich habe schon längst keinen Hunger mehr. Den ganzen Tag sitze ich nur auf den rollenden Panzern und sehe wie das Land und die Menschen an mir vorbeiziehen oder besser gesagt, wie ich an dem Land und den Menschen vorbeiziehe.

Freude ist eines der vielen Fremdworte geworden. In einem Radio hören wir die Namen von den Verstorbenen. Alle Menschen, ob es Mütter, Ehefrauen oder Kinder sind, stehen dort versammelt. Erich Leibnitz, Rainer Ohlendorf, Heinz Werner Lasche. Ich habe das Gefühl, als vergingen auch diese Namen nach fünf Meilen. Vielleicht ist das aber auch nur für mich so. Wenn das Radio mit der Aufzählung fertig ist, hört man Seine Stimme: Totaler Krieg, bis zum Endsieg, wir gewinnen für das Vaterland. Weiß er, dass wir hier gerade auf den Panzern sitzen und rollen? Hat er schon mal von Menschen wie uns gehört? Sind nur wir die Ausnahme und alle anderen Menschen gewinnen?

Christa ist meine einzige Freundin. Ich bin glücklich, dass sie hier ist. Trotzdem bin ich den Großteil des Tages traurig. Christa nicht. Sie lacht, springt von Panzer zu Panzer, läuft mal einige Meter voraus, um dann dort zu warten. Sie ist auch jünger. Heute ist der Himmel so dunkel, wie sonst auch. Wir sitzen auf dem Panzer und hören der Radiostimme zu. Niemand spricht. Alles ist ruhig. Plötzlich beginnt Christa zu summen. Ich kenne das Lied aus der Schule. Dann fängt sie, erst leise, dann immer lauter werdend, an zu singen:

Ob´s stürmt oder schneit,
Ob die Sonne uns lacht,
Der Tag glühend heiß
Oder eiskalt die Nacht.

Dann fing auch ich an zu singen. Mutter sagte immer, ich solle nicht versuchen aufzufallen oder hervorzustechen, aber heute war mir danach. Auch die anderen sangen alle. Selbst die Mütter, die sonst nur an den Radiogeräten hingen. Christa stand auf, das Radio lief weiter und sie sang mit allen anderen gemeinsam:

Bestaubt sind die Gesichter,
Doch froh ist unser Sinn,
Ist unser Sinn;
Es braust unser Panzer
Im Sturmwind dahin

Dann ein Schuss. Alles still. Christas Körper fällt zu Boden. Im Radio: Bis zum Endsieg. Immer weiter. Der Sieg ist nah.

Foto: www.pixabay.com

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