Die Geschichte der Götter

von Franziska Fuchs

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

„I’m not crazy – my reality is just different from yours.“
Lewis Carroll in Alice im Wunderland

Legende:
Zeus – Gott des Himmels
Styx – Göttin des Flusses, zwischen den Lebenden und dem Totenreich
Hades – Herr der Unterwelt
Innere Stimme – kursiv
Großbuchstaben – Gebrüll

Meine Flügel trugen mich höher und höher. Die Welt unter mir verblasste und ich genoss das Gefühl von Freiheit. Ich war der König der Lüfte und jedes Wesen auf dieser Erde wusste das.

Unter mir tauchte ein Hof auf, umgeben von einem Wald. In der Nähe erblickte ich einen See. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, denn dieser Ort strahlte Furcht aus.

Mein scharfes Gehör nahm eine liebliche Stimme wahr, ich flog in die Tiefe, klappte meine gigantischen Flügel ein und ging mit erhobenem Haupt näher.

Ich erblickte ein junges, hübsches Mädchen, deren Seele in der Gestalt eines Huhns erschien. Niemand, außer wir Götter, konnte den wahren Kern eines Tieres erkennen. Für normale Sterbliche war sie ein gewöhnliches Huhn.

Sie hatte blasse Haut, ihr langes, schwarzes Haar peitschte über den Boden, die Augen schimmerten blau und ihre Lippen waren kirschrot. Aus ihrer Kehle drang ein altes, düsteres Lied und ich musste zugeben, mich erwischte es ein bisschen. Kein Wunder, ihr königlicher Anblick raubte jedem, der das Huhn nicht sehen konnte, den Atem.

Nun bist du bei mir, mein liebes Kind
Hab keine Angst, es geht geschwind
Vor Gericht wirst du stehen
Und Hades wird sehen
Dein reines Herz und er erspart dir den Schmerz …

Meine Augen wurden groß. Sie war Styx, Göttin des Flusses, der die Lebenden von den Toten trennte. Ich trat neugierig näher und mit jedem Schritt, den ich machte, verschlang mich die Dunkelheit. Als ich direkt vor ihr stand, hob sie den Kopf. „Hallo Fremder. Hier kommt niemand von deinesgleichen her. Euer Reich ist dort oben. Was verschafft mir diese Ehre?“

Mein inneres Ich schnaubte. Ja, Hallo erstmal. Ich weiß gar nicht, ob du es wusstest, ABER ICH BIN ZEUS. Ich schmunzelte, sprach jedoch mit tiefer Stimme:

„Hallo. Es stimmt, mein Reich ist dort oben, aber ich vernahm deinen Gesang und wurde neugierig.“

Erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass ich nicht nur ein Adler war. Ihre Augen weiteten sich.

„Zeus, nehme ich mal an?“ Sie lächelte, nahm mich an der Hand und zog mich mit in einen Stall. Ihre Stimme erklang erneut: „Komm mit, ich zeige dir mein Reich. Für andere Lebewesen ist das hier ein Hühnerstall. Die Hühner sitzen nur da, fressen und warten darauf, dass sich jeden Morgen die Tür zum Schlachter öffnet. Der Schlachter sucht sich dann eine unschuldige Seele aus und bereitet ihrem Dasein ein Ende. Diejenigen von uns, die verschont werden, schmeißen eine Party und feiern, dass sie noch leben dürfen.“ Sie verdrehte die Augen und sprach meinen Gedanken aus. „Hühner sind nicht gerade schlau.“

Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. „Ich weiß, wer du bist“. Na herzlichen Glückwunsch Zeus. Du klingst wie ein Stalker.

Sie lachte, als hätte sie meine innere Stimme gehört und sah mich mit einem Funkeln an. „Ich habe die ehrenhafte Aufgabe, alle verstorbenen Seelen ans andere Ende des Flusses zu bringen. Jedes Mal, wenn jemand stirbt, juckt es mich an meinem Federkleid und ich singe das alte Lied. Wie gerne würde ich hoch am Himmel kreisen, so wie du, aber meine Aufgabe ist hier unten und da ich immer noch ein Huhn bin, kann ich nicht fliegen.“

Ich runzelte die Stirn. „Ihr Hühner könnt nicht fliegen?“

Traurig sah sie mich an. „Nein.“

Wir unterhielten uns noch ein Weilchen, ich erkundigte mich, wie es meinem Bruder Hades erging und nach und nach verliebte ich mich mehr in Styx. Für mich erschien es eine Ewigkeit, oben am Himmel zu sein und es tat auch gut, nicht ständig meine Flügel belasten zu müssen.

Plötzlich hörte ich eine männliche Stimme. „Na sowas. Ein Adler im Hühnerstall, das wird mir niemand glauben.“ Ein rundlicher Mann hockte sich vor mir hin und begutachtete mich kurz. Danach ging er und schloss hinter sich die Tür.

Was danach folgte, ist nicht sehr spannend. Ich verbrachte meine Zeit im Hühnerstall und Styx wich mir nicht mehr von der Seite. Meine Fähigkeit zu fliegen verlor ich mit jedem Tag mehr und auch so ähnelte ich mich nach und nach den anderen Hühnern.

Trotzdem sehnte ich mich nach der Freiheit. Ich vermisste den Wind und die Strahlen der Sonne. Aber Styx hatte ihre Aufgabe hier unten und da ich sie so sehr liebte, erstickte ich meine Sehnsucht.

Eines Nachmittags kam ein Mann in den Stall. Er schien überrascht und schrie: „Alter Freund. Hier ist ein Adler. Er gehört in die Lüfte.“ Na endlich. Ich dachte schon, alle wären zu blöd, um zu erkennen, dass wir nicht hier unten hingehören. Müde blinzelte ich den Mann an. Der rundliche Kerl erschien und meinte: „Er ist jetzt ein Huhn, er kann nicht fliegen.“ Daraufhin packte mich der Mann, ging mit mir nach draußen, hielt mich hoch und schrie: „Du gehörst den Lüften, nicht der Erde. Breite Deine Flügel aus und fliege.“ Hast du nicht gehört? Du sollst fliegen. Beweg dich endlich. Wir beide wissen doch, dass Styx ihre Aufgabe niemals aufgibt, auch wenn du ein toller Kerl bist.

Aber ich blieb an Ort und Stelle, denn ich wusste nicht mehr, wie sich ein Adler fühlte. Stattdessen sprang ich zu den anderen Hühnern und sammelte die Körner am Boden auf.

In dieser Nacht unterhielt ich mich mit Styx. Ich erzählte ihr, dass ich die Freiheit vermisste. Sie sagte nichts. Pah. Sie soll dich lieben? Du gibst für sie deine Freiheit auf.

Der Mann kam wieder. Erneut hob er mich dem Himmel empor und abermals sprang ich hinab. Ich konnte Styx nicht verlassen, es ging nicht. Dennoch suchte ich sie am Abend auf und versuchte, mit ihr zu reden. Aber wie sollte ich es anstellen? Hör mal, Zuckerpuppe. Es war ja ganz nett mit dir, aber ich will wieder in meine Welt. Ganz sicher nicht. Stattdessen watschelte ich in eine gemütliche Ecke, winkte Styx zu mir und wartete. Immerhin war ich Zeus und erwartete, dass jeder gehorchte. Styx jedoch schlüpfte aus dem Stall und begab sich an den Fluss. Nicht nachgehen. Wir gehen ihr nicht nach. Meine Füße jedoch waren schneller und so stolzierte ich ebenfalls an den Fluss. Großartig. Jetzt hat sie auch noch deine Füße unter Kontrolle. Ich sah sie am Ufer knien und wollte gerade den Mund aufmachen, da drehte sie sich mit einem Lächeln um und sagte zu mir:

„Ich habe eine Überraschung für dich, mein Lieber.“ Oh ja. Ich auch, ich will wieder in mein Reich und da du nicht mit kannst, trennen sich hier unsere Wege. Boohja.

Wenn ich eine Sache hasste, dann waren es Überraschungen. Plötzlich teilte sich der See in der Mitte und ich hörte ein Murmeln. Oh nein, bitte nicht er. Ihn kann ich gerade wirklich nicht gebrauchen.

„Also wirklich. Warum hab ich nur auf dich gehört, Styx? Die Sonne brutzelt meine arme Haut.“ Ich schlug mir auf die Stirn und Stxy kicherte: „du hast von deinem Bruder gesprochen, jetzt ist er hier.“ Hades erschien in seiner schwarzen Gestalt und brabelte seine Floskel: „gestatten, Hades. Herr der Unterwelt. Wie geht´s, wie steht´s?“ Yep, er ist immer noch so hohl wie damals. Er kann einfach nicht ernst bleiben, gut, dass Vater mir damals den Himmel übergeben hat. Hades erblickte mich und seine leeren Augen blitzten auf. „Zeus, mein gehasster Bruder. Es ehrt mich zu tiefst, dass du in mein Reich gekommen bist. Styx ist schon ganz aus dem Häuschen wegen dir. Ich würde dich ja gerne auf eine Tasse Tee einladen aber ehm“ er kratzte sich am Kopf, „ich habe nicht aufgeräumt. Die Hölle zu leiten geht mir ziemlich an die Knochen.“

Augenverdrehend tätschelte ich kurz seinen Rücken und er umarmte mich. „Vater schuldet mir immer noch 20 Dollar, einige Seelen hier unten brauchen eine stärkere Seelenreinigung als gedacht.“ Er grinste mich mit seinen nicht vorhandenen Zähnen an und warf Styx einen Arm um die Schulter. Diese schmiegte sich leicht an ihn und schielte zu mir. Angewidert betrachtete ich dieses Szenario und bereitete mich auf meinen dramatischen Abgang vor. Ich klatschte in die Hände.

„Also meine Liebe.“ Langsam starrte ich sie an. „Ich kann hier nicht bleiben. Das ist nicht meine Welt.“ Hades stieß ein Pfeifen aus und Styx erstarrte. Gleichgültig fuhr ich fort: „Wir beide passen auch nicht zusammen. Du bringst Tote über den See und ich herrsche über den Himmel. Das ist voll der krasse Gegensatz.“ Als ich ein Schluchzen vernahm, versuchte ich nicht komplett an die Decke zu gehen. Frauen. Bei ihnen geht gleich die Welt unter. Hades strich ihr beruhigend über das Haar und ich musste mir das Würgen unterdrücken.

Auf einmal sah ich alles mit komplett anderen Augen und ich fragte mich, warum ich für eine Frau meine Freiheit aufgegeben hatte. „Ihr beide“, ich deutete zwischen Hades und Styx hin und her, „gebt ein todschickes Paar ab. Euer Reich ist die Unterwelt, ihr könntet sie gemeinsam regieren. Ich muss nach oben.“ Als ich diese Worte gesprochen hatte, spürte ich es. Ein Ruck durchfuhr mich und ich konnte plötzlich den Wind wieder spüren. Schnell entfernte ich mich und mein Bruder lächelte mir zu.

Als der fremde Mann erneut auftauchte, sammelte ich meine Kräfte. Ich war geboren, um zu fliegen. Er hob mich abermals dem Himmel empor und rief: „Du gehörst den Lüften, nicht der Erde. Breite Deine Flügel aus und fliege.“

In mir brach meine Kraft aus. Ich schlug mit den Flügeln und erhob mich. Mit einem Brüllen stieß ich mich nach oben und lächelte zufrieden. Unter mir gackerten die Hühner und ich sah meinen Bruder. „Richte Vater schöne Grüße aus und sag ihm, meine Aufgabe wird langsam langweilig. Die meisten, die sterben, gehen davor noch beichten.“

Foto: www.pixabay.com

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