Überwindung

von Edi Turkowski

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Da stand er also mal wieder. Die Tür des Eingangs zum Keller war noch leicht geöffnet, denn das zugehörige Schloss ging schon vor zwei Jahren zu Bruch, als ein heftiger Durchzug während eines Herbststurmes die Tür so fest zuknallen ließ, dass der Riegel abbrach und sie von nun an nicht mehr im Türrahmen einrastete, wenn man sie schloss.

Ein solcher Sturm wütete auch gerade eben, er klatsche erbsengroße Regentropfen an die Fensterscheiben und riss erbarmungslos das letzte bunte Laub von den immer kahler werdenden Bäumen. Henry liebte diese Zeit des Jahres, in der er ansonsten auch sehr gerne draußen spielte, allerdings war am Mittag dieses Tages im ganzen Ort der Strom ausgefallen, damit auch die Heizung, und sie hatten es sich seit dem am warmen Kaminfeuer gemütlich gemacht. Jedoch lagerte das Holz im Keller, irgendwann musste also irgendjemand das Brennholz herauf holen, und nun war er derjenige.

„Kannst du bitte neues Feuerholz aus dem Keller holen? Nimm am besten gleich einen ganzen Sack“, hatte seine Mutter ihm im Wohnzimmer mehr aufgetragen, als sie ihn gefragt hat, während sie ihm gerade einen Pullover für den nahenden Winter strickte und er ein Buch auf der Couch vor dem langsam verglimmenden Feuer las.

„Klar, Mom“, antwortete Henry mit gespielter Gelassenheit, während ihm bereits das Herz in die Hose rutschte.

Nun stand er vor der Tür und beobachtete seine rechte Hand dabei, wie sie sich scheinbar unabhängig von seinem restlichen Körper zum Türgriff bewegte. Alles kam ihm wie in Zeitlupe vor, und als er den kalten Messinggriff umfasste, überkam ihn ein kleiner Schauer. Langsam hielt er eine erbärmlich leuchtende Taschenlampe vor sich, deren winziger Lichtkegel nicht mehr als einen halben Meter vor ihm erleuchtete. Sein Vater hatte ständig versäumt, die Batterien zu wechseln, und Henry selbst hatte noch keine Ahnung, wie man das machte.

Vorsichtig tappte er auf die erste Stufe, deren holziges Knarzen ihn zusammenfahren ließ. Er hielt die Lampe mit zitternder Hand vor sich und konnte immer jeweils drei Stufen vor sich sehen, während er langsam die Stufen hinab stieg. Henrys Herz hämmerte wild in seiner Brust und er spürte, dass ihm kleine Schweißperlen an der Schläfe hinab liefen. Er umklammerte die Taschenlampe fester.

Dort unten war das Brennholz, er sah es direkt vor sich, und schnappte sich einen Sack, dessen Gewicht ihn beim Versuch des einhändigen Hochhebens direkt wieder zu Boden drückte. Er verschnaufte, klemmte die Lampe zwischen die Zähne, probierte es jetzt mit beiden Händen nochmal und diesmal war das Gewicht viel einfacher zu heben. Leicht keuchend, aber trotzdem optimistisch blickte er wieder in Richtung Treppe, doch dann erstarrte er. Dort nebenan, im Waschkeller, dort hatte sich etwas bewegt. Er hatte das Rascheln von Kartons wahrgenommen, die die Familie dort aufbewahrte und die ganz sicher eben bewegt wurden. Er riss seinen Kopf so ruckartig in Richtung des Geräuschs, dass ihm beinahe die Lampe aus dem Mund gefallen wäre, und die kleinen Schweißperlen auf seinem Kopf waren schlagartig zu Rinnsalen geworden. Seine Arme wurden taub vom Gewicht des Holzsackes, doch er war wie angewurzelt, als er versuchte, mit dem kleinen Schein der Lampe den Nebenraum zu erleuchten. Es raschelte erneut, diesmal deutlich näher, und als dann auch noch einer der Kartons zu Boden fiel, zuckte Henry so sehr zusammen, dass ihm der Brennholzsack aus der Hand fiel und nur einige Zentimeter an seinem Fuß vorbei zu Boden krachte. Panisch riss er sich die Taschenlampe aus dem Mund und streckte sie vor sich wie den Griff eines Schwertes, um noch weiter in den dunklen Raum blicken zu können. Plötzlich sah er etwas. Der Schein der Lampe traf auf zwei kleine Objekte, die das schwache Licht auffällig stark reflektierten, und dabei auch auffällig nah zusammen lagen. Es dauerte einige Sekunden bevor Henry begriff, dass er gerade in zwei Augen starrte, und das aufkeimende Entsetzen begann bereits seinen Körper völlig zu lähmen, da hörte er ein vertrautes, rostiges: „Miaaau!“.

„Wellington?!“, krächzte er ungläubig und erleichtert lachend. Der Kater der Familie sprang aus der Dunkelheit hervor, begann wie üblich sofort zu schnurren und ließ sich sogar dazu herab, sich kurz von Henry streicheln zu lassen. Danach lief er die Kellertreppe wieder nach oben, und Henry zögerte keine Sekunde, es ihm direkt gleichzutun. Er klemmte sich erneut die Lampe zwischen die Zähne, griff sich den Sack mit dem Brennholz und sprintete die Treppe im Rekordtempo nach oben.

Oben angekommen setzte er nochmal kurz ab, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel weg und brachte das Holz ins Wohnzimmer, wo seine Mutter sich bedankte und ihn zum Dank auf die Wange küsste. „War da unten alles okay?“, fragte sie, „Es klang eben so, als wäre irgendetwas umgefallen.“

„Nein, alles in Ordnung, Mom“, antwortete Henry grinsend und etwas aus der Puste.

Während er vor dem Kamin saß und den lodernden Flammenzungen fasziniert zuschaute, gesellte sich Wellington zu ihm und schleckte Henrys Hand mit seiner rauen Katzenzunge ab. Er lächelte, drückte den beleibten Kater fest an sich, lauschte seinem rostigen Schnurren sowie dem Knistern des Feuers, während der Regen an die Fensterscheiben prasselte, und hatte das Erlebnis im Keller schon fast wieder vergessen.

Foto: www.pixabay.com

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