Mein Anders

von Tim Tensfeld

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Habt ihr schon einmal das Gefühl gehabt, verrückt, seltsam oder schräg zu sein. Also ich meine nicht so zu sein, dass man als normal gelten kann. Habt ihr euch dabei anders oder doch normal gefühlt? Eine gute Frage, nicht wahr?

Mein Name ist Chichi und alles begann mit einer vermeintlich simplen Frage. Eines Tages fragte ich mich aus einer Laune heraus, was „normal“ ist. Kurz darauf lief ich in meiner Nachbarschaft umher und stellte jedem die Frage nach dem „Normal“. Doch es drangen immer unterschiedliche Antworten in mein Ohr. Nach Tagen des Fragens wusste ich, dass die Anderen keine klare Antwort auf meine Frage hatten. Immerzu wollten die Anderen um uns herum, dass jeder normal ist, doch in Wirklichkeit wusste niemand von ihnen, ob er selber normal ist. Das fand ich wirklich verrückt. Mir wurde also klar, dass ich selber dem „Normal“ auf die Spur kommen musste. Doch wie?

Lange grübelte ich in meinem, manchmal wirren Kopf herum. Viele Gedanken verknoteten sich und schwirrten umher, bis mir eine Weisheit meines Großvaters einfiel. „Wenn du die Wahrheit von etwas erkennen willst, solltest du sein Gegenteil fragen“, sagte er einst. Dieses nahm ich mir zu Herzen und fragte nicht mehr nach dem „Normal“, sondern nach dem „Anders“ und dem „Schrägen“ im Leben. Sofort schossen mir viele Ideen, voller Farben und Schrägsinn, in den Kopf. Bald darauf versuchte ich diese Ideen zu verwirklichen und sie auf das Leben zu malen, wie Farben auf weißes Papier.

Erst änderte ich meinen ursprünglichen Namen Melanie zu Chichi und färbte mir anschließend die Haare in den schillernden Tönen des Regenbogens. Die anderen Kinder aus meiner Schule sahen mich ab da verwundert an. Viele von ihnen glaubten, dass ich gerade eine schwierige Zeit durchmachen würde. Sie boten mir Hilfe an und ich bot ihnen die Meine. Nach und nach mieden mich viele und tuschelten hinter mir. Überall nannte man mich nur noch „Schräg“. Das war tatsächlich der Name, den ich von den Anderen bekam.

Obwohl mir diese Zeit wirklich schwer fiel, so wollte ich dennoch unbedingt meine Frage klären. Ich ignoriert die Anderen und machte einfach weiter. Nun begann ich mich anders zu schminken und legte mir, ohne die Erlaubnis meiner Eltern, ein Frettchen zu. Alles im Namen der Wissenschaft, versteht sich. Natürlich bekamen meine Eltern alles mit, doch sie mischten sich nicht ein. „In die Entwicklung der Kinder soll man nicht eingreifen“, sagte mein Vater immer zu meiner Mutter, wenn sie drauf und dran war, das Frettchen aus dem Haus zu jagen. Man kann sagen, dass dieser Spruch zum neuen Lebensmotto meiner Eltern wurde.

Mich störte es nicht. Ich glaube sogar, dass unser Familienleben wirklich etwas Chaos brauchte, um wieder schön zu werden. Unsere Familie hatte eine Starthilfe ins Bunte und Ungeplante echt nötig. Jede Woche gab es einen Haushaltsplan, der genau befolgt werden musste und alles ohne Abweichungen regelte. Obwohl ich immer schon fand, dass die unvorhergesehenen Dinge doch die Schönsten im Leben sind. Schließlich war ich eines dieser Dinge. Unvorhergesehen und ungeplant, so war ich, als meine Mutter von der Schwangerschaft erfuhr. Trotz nicht vorhandener Planung, wollten mich meine Eltern und haben es, da bin ich mir sicher, nicht bereut. Außer vielleicht jetzt, während ich ihre Ordnung auf den Kopf stellte.

Unbeirrt veränderte ich mein Leben weiter. Statt mich anders oder verändert zu fühlen, spürte ich mehr und mehr eine Vollkommenheit. Es war, als würde ich in das Leben wechseln, zu dem ich schon immer hin wollte, mich nur nicht getraut hatte, es tatsächlich zu leben. Mit jeder weiteren Veränderung wurden auch meine Eltern anders. Sie achteten nun auch auf meine Worte, statt diese nur platonisch aufzugreifen und unterstützten mich mehr als in den Jahren zuvor. Meine Eltern wurden immer lockerer und schon bald verschwand auch ihre strenge Ordnung, mit all ihren anhaftenden Regeln, die das Leben sonst auf Abstand hielten. Von nun an standen mehr Pflanzen im Haus und ich hörte nach langer Zeit meine Eltern wieder zusammen lachen.

Nach einer Weile fingen auch die Nachbarn in unserer Straße an, die zuvor über mich nur im Geheimen getuschelt und ihre Köpfe geschüttelt hatten, sich zu verändern. Sie grüßten jeden Morgen und Abend. Viele holten sich Tiere in ihr vorher karges Leben oder trugen fröhliche Farben, als Hose und Jacke, mit sich herum. Meine vorherige Suche hatte sich zu einem neuen Lebensgefühl der anderen Menschen entwickelt.

Einige Tage später saß ich zum ersten Mal bis tief in die dunkle Nacht mit meinen Eltern am Esstisch. Es roch nach warmen Kerzenwachs und wir redeten immerzu über die Veränderungen in der Nachbarschaft, sowie lustige Geschichten, die fast in Vergessenheit geraten waren. Während wir redeten, sah ich mit einem Lächeln nachdenklich in eine der Kerzenflammen. Schließlich wurde mir klar, dass man nicht das „Normal“ finden konnte, was ich zu finden versuchte, da es sowieso eine Erfindung war. Nein, vielmehr musste man sein „Anders“, seine verrückte, unperfekte und völlig schräge Einzigartigkeit finden. Mein „Anders“ habe ich jedenfalls gefunden. Ich bin eben nicht normal und will es auch nicht sein, denn ich bin eben Chichi und das ist auch gut so.

Foto: www.pixabay.com

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