Alle Jahre wieder?

von Svenja Volpers

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Wie jedes Jahr war die Bescherung eine volle Enttäuschung gewesen. Was hatte sie bekommen? Grundnahrungsmittel für ihre zukünftige Studibude. Und was hatte sie gegeben? Für jeden das individuell Passende, in Liebe eingepackt mit selbstgemachtem Geschenkpapier. Schon vor drei Monaten hatte sie angefangen, erste Ideen auf Zetteln zu sammeln, hatte ein ganzes Wochenende mit Plätzchenbacken verplempert. Und wofür? Sogar diesen schweineteuren Wein hatte sie für ihren Vater bestellt, obwohl der eigentlich deutlich über ihr Budgetlimit ging. Und warum? Weil sie ganz genau wusste, dass er sich diesen Luxus niemals selbst gönnen würde. Und dann hatte er einfach die ganze Flasche am Heiligabend geleert. So viel zum bewussten Genuss. Warum hatte sie nicht auf sich von vor einem Jahr gehört? Sie hatte es doch schon von vornherein gewusst, dass es wieder so laufen würde. Das war schon so eine Art Tradition. Strahlende Gesichter bei den anderen, gezwungenes Lächeln bei ihr, Freudentränen in den Augen der anderen beim Bedanken, sie dagegen hatte nur ein herausgepresstes „Danke“ über die Lippen gebracht. Und dann hatte sie nur noch ins Nichts gestarrt und die Säure heruntergeschluckt. Es hatte gebrannt.

Den ganzen 23. Dezember hatte sie damit verbracht, ihre Kreativität auszuleben und Kunstwerke zu erschaffen. Und wofür? Es hatte ihr zwar Spaß gemacht, aber danach hatte sie es umso mehr bereut. So viel Arbeit und Zeit hatte sie verschwendet und was hatte sie zurückbekommen? Längst nicht das, was sie eigentlich verdient hätte. Und immer noch zu wenig Wertschätzung. Ihre Geschenke waren für die anderen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie war zwar der Meinung, dass Weihnachten nicht zu einem Fest des maßlosen Konsums verkommen sollte, aber durch wohl überlegte Geschenke hätte man doch ganz sichtbar seine Zuneigung ausdrücken können. Das hatte nur keiner getan, außer ihr. Sie hatte mit ihren Geschenken einen Teil ihrer Seele verschenkt und dieser Teil wurde von niemandem im Gegenzug ersetzt. Wo war also der Sinn? Gab es überhaupt einen?

Es war still im Haus. Sie war als Einzige noch wach, krümmte sich vor Schmerzen unter ihrer Bettdecke und hielt die Wärmflasche fest an sich gedrückt. Aus stillem Protest hatte sie ab dem 27. Dezember aufgehört, zu essen und zu reden. Hatte das jemand bemerkt? Wohl kaum. Essen hätte sowieso nie das stopfen können, was ihr fehlte. Hatte sie überhaupt die Liebe verdient, die sie sich so sehr zu Weihnachten gewünscht hatte? Oder hatte sie einfach zu hohe Ansprüche an die anderen? Warum konnte das Fest nie so sein, wie sie es sich so sehnlichst erträumte? Es war zum Davonlaufen. Mit diesem knurrenden Magen konnte sie jetzt sowieso nicht einschlafen.

Um sich abzulenken, schaute sie auf den leuchtenden Handybildschirm. Eine ungelesene Nachricht. Der Typ aus der Karaoke-Bar neulich hatte ihr geschrieben: „Na, Lust auf einen Kaffee irgendwann mal? 😊“ Ohne groß nachzudenken, schrieb sie ihm zurück. „Ne, aber auf eine Pommes. Hättest du jetzt Zeit? Dann könnten wir uns in einer halben Stunde beim Mcdoof neben dem Katharinenhospital treffen.“ Nach drei Sekunden bekam sie die Antwort: „Ich liebe spontane Frauen. So machen wir es! Bis gleich :D“

Fast bereute sie schon ihr unüberlegtes Handeln. Jetzt aus dem schönen warmen Bettchen steigen und durch die Kälte zur Bushaltestelle stapfen? Aber ihr Bauch musste gefüllt werden, viel länger konnte sie den beißenden Hunger nicht mehr aushalten. Lebensmittel aus diesem Haus, geschweige denn die, die sie geschenkt bekommen hatte, würde sie nicht anrühren. Was blieb ihr also für eine andere Wahl? Mühsam quälte sie sich aus dem Bett, zog sich die erstbesten wärmenden Klamotten an, die sie auf dem Fußboden finden konnte, schnappte sich ihren Rucksack und verließ das Haus.

Der Bus kam gerade an, als sie die Bushaltestelle erreichte. Sie stieg ein. Es war so voll, dass sie sich in eine Lücke quetschen musste. Warum waren hier so viele Leute und woher kam dieser penetrante Essensgeruch? Was hatte sie eigentlich zuletzt gegessen? Plätzchen? Kuchen? Schokolade? Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Und wieso war ihr Kopf auf einmal so heiß? Ihre Zunge klebte am Gaumen fest. Schwerfällig kramte sie in ihrem Rucksack. Mist! Die Wasserflasche hatte sie auf dem Nachttisch stehengelassen. Wie sollte sie die drei Stationen aushalten, ohne zu vertrocknen? Sie stöhnte leise und klammerte sich an die Stange, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr Kopf fühlte sich komisch an, wie in Watte gepackt. Noch zwei Haltestellen. Die Gespräche wurden gedämpfter und sie sah ihre Umgebung plötzlich in einem violetten Licht flimmern. Nur einmal kurz die Augen schließen, dann gings bestimmt gleich wieder…

Als sie erwachte, sah sie mehrere Augenpaare auf sich runterblicken. Langsam kam sie wieder zu sich. Sie lag auf etwas Warmen, Weichen. Auf wem war sie da gelandet? Hatte sie die Person mit nach unten gerissen?

„Warte, ich helfe dir hoch“, sagte eine tiefe Stimme unter ihr.

Zusammen rappelten sie sich wieder auf. Sie sah sich um und erkannte ihn sofort. Es war ihr Date.

„Komm, wir müssen hier jetzt raus.“

Er legte ihr stützend den Arm um die Hüfte. Sie ließ sich von ihm aus der Bustür schieben. Ein paar Meter vor ihnen leuchtete das goldene M. Sie gingen dicht nebeneinanderher. Er hielt ihr die Tür auf und sie ließ sich auf einen der gepolsterten Plätze am Eingang fallen. Er ging zur Kasse.

„Zweimal ‘ne große Pommes, bitte. Einmal Mayo, einmal Ketchup. Und einen Kaffee und ein Wasser“, hörte sie ihn sagen. Nach ein paar Minuten war er wieder bei ihr und setzte sich neben sie.

„Guten Hunger!“

„Danke“, sagte sie, griff die Pommes mit Mayo vom Tablett und fing an, sie zu verspeisen. Genüssliche Stille breitete sich aus.

„Wie waren denn so deine Feiertage?“, fragte er, als beide satt waren. Sie zögerte kurz, dann brach alles aus ihr heraus, was sich so lange in ihr aufgestaut hatte. Er ließ das Gehörte einen Augenblick lang sacken. Dann erwiderte er: „Leg doch nächstes Jahr ein Geschenk mit deinem Namen unter den Baum!“

Foto: www.pixabay.com

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