Eine Fahrt auf dem Riesenrad

von Tom Reichelt

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Ich fahre Riesenrad, mein ganzes Leben lang. Oft geht es hoch, aber auch immer wieder herunter. Oft geht es herunter, aber auch immer wieder hoch.

Wenn ich unten bin, kann ich mich daran klammern, wenn ich oben bin, habe ich Angst vor dem nächsten Schritt, dem Schritt der unweigerlich wieder nach unten führt.

Meine Sicht ist beschränkt, und mein Blick wird immer enger, je weiter ich nach unten komme. Irgendwann sehe ich nur noch mich, vor mir ein großer Scherbenhaufen. Die Gedanken sind immer da, himmelhoch oder am Boden zerstört, sie begleiten mich und rufen immer dasselbe: Sei du selbst! Sei froh!

Doch das ist manchmal gar nicht so einfach, denn immer wieder bin ich allein. Ich laufe durch die Straßen und ich bin allein. Ich laufe am Wasser, neben mir ein küssendes Paar auf der Bank und ich bin allein. Ich stehe am Grab meiner Lieben und ich bin allein. So unfassbar allein.

Aber daraus lässt sich Kraft erschöpfen, wertvolle Kraft – Kraft, die mich wieder nach oben bringt. Denn ich kenne mich aus in den Straßen, die Pflastersteine und Giebelhäuser, der Friedenssaal und der Dom, das ist meine Heimatstadt, hier verlaufe ich mich nicht. Denn das Wasser fließt unaufhaltsam, vom Fichtelgebirge in die Elbe und von dort ins große weite Meer. Und irgendwo dort wartet jemand auf mich und hofft, dass ich gesund und glücklich nach Hause komme. Und meine Lieben haben mir alles beigebracht, sie waren immer für mich da und jetzt, wo sie tot sind, habe ich sie nicht in ein paar Kilometern Entfernung, sondern noch viel stärker als Antrieb direkt in meinem Herzen.

Und ich fühle mich nicht mehr allein und bin bereit, die Reise wieder nach oben anzutreten. Mein Blickfeld zu weiten und das Steuerrad wieder fest zu übernehmen. Ich brauche das Rad nicht zu drehen, es steht sowieso nie still, immer rollt es weiter, genauso wie sich mein Riesenrad immer bewegt, was ich auch tue.

Wenn ich oben bin, dann kann ich weit gucken. Ich sehe all das, was ich zu Hause nenne. Ich sehe die Orte, die zur Heimat wurden. Ich sehe die Menschen, die zu Freunden wurden. Ich sehe die Beschäftigungen, die zu Lebensbestandteilen wurden. Ich sehe die Gegenstände, die zu Lieblingen wurden. Und ich sehe ein Lachen – ein Lachen auf meinem Gesicht.

Und auch wenn es wieder runter geht, bald wird es soweit sein, dann kann ich mich daran erinnern. Wenn man in der Heimat das vermisst, was einem eine andere Heimat bietet. Wenn Freunde da sind, aber man sie nicht wirklich treffen kann. Wenn die Beschäftigungen zur Anstrengung werden, zur Last. Wenn die Lieblinge aus dem Leben verschwinden – genauso wie mein Lachen.

Doch eine Sache kann mir dieses Riesenrad niemals nehmen. Eine einzige Sache trage ich immer bei mir und hüte sie wie meinen größten Schatz: Meine Erinnerung. Jeder Moment, in dem ich einfach nur fröhlich bin, in dem ich mich einfach fallen lassen kann. Ich kann jederzeit zu ihm zurück, und ist mein Blick auch noch so eingeschränkt und bin ich auch noch so allein.

Ich kann zurück zu dem großen Glück. Und ich weiß, wer für mich da ist. Und auch was für mich da ist. Ich laufe stundenlang durch die kleinen Gassen dieser Stadt, ich wandere im Wald. Meine Gedanken bestimmen mein Leben, mein Charakter bestimmt meine Einstellung. Und ich bestimme, was ich denken will, ich bestimme, wie ich sein will.

Natürlich vermisst man, was man nicht haben kann. Natürlich vermisst man diejenigen, die einem wertvoll geworden sind. Natürlich vermisst man die Beschäftigungen, denen man so große Hingabe gewidmet hat. Man wünscht sie sich alle so sehr zurück, jetzt hierhin und vor allem ganz nah zu mir. Und sie sollten nie mehr gehen. Doch nur wenn sie gehen, können sie wiederkommen. Nur wenn sie gehen, merke ich, wie sehr ich sie tatsächlich vermisse. Und wenn ich ehrlich bin wünsche ich sie mir doch auch nur dann zurück, wenn sie schon gegangen sind.

Es ist so selbstverständlich, dass sie da sind. Es ist so komisch, wenn sie fehlen. Aber wenn ich es schätzen soll, wenn mir wirklich klar werden soll, was ich brauche und was nicht, dann muss mein Riesenrad auch nach unten fahren und da sein. Dort sein, wo ich allein bin. Alleine mit meinen Gedanken. Die kann ich ordnen und ich brauche nichts zu tun: Es geht auch wieder hoch und dann weiß ich, worauf ich besser achten sollte und was mir wirklich so unendlich unten gefehlt hat.

Foto: www.pixabay.com

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