Sterben

Am zehnten Mai 1969 hätte ich sterben sollen. Ich war zehn Monate alt. 

Ich konnte plötzlich nicht mehr gut atmen. Die Grippe hatte ich schon einige Tage gehabt, aber das war etwas ganz anderes. Meine Mutter rief die Krankenschwester an und die kam sofort. Konnte aber nichts tun und wusste nicht, was mit mir los war.

Im Krankenhaus erkannte der Arzt sofort, dass ich Pseudokrupp hatte. Eigentlich eine ganz normale Viruserkrankung für Kinder. “Können Sie nicht sehen,” sagte er zu der Krankenschwester, “dass er mit seinen Muskeln atmen muss?” Er sah, wie während ich Sauerstoff einzuatmen versuchte, erschien eine Grube in der Mitte meines Brustkorbs.

Die Behandlung war Dampf-Inhalation in einer halbsitzenden Position. Ich hatte das ganze Zimmer nur für mich und meine Dampf-Behandlung. Ich musste da allein übernachten.

Das Krankenhaus war klein, und so war auch mein Heimatdorf. Am nördlichen Ende des Gebäudes waren einige Patientenzimmer, im Zentrum die Behandlungsräume und das Büro. Der Kreißsaal und die Geburtshilfe lagen am südlichen Ende.

Eine Freundin meiner Mutter gebar am selben Tag ihre Tochter. Am Abend war sie im südlichen Ende des Hauses untergebracht, als sie Brandgeruch spürte. Niemand konnte sagen, was da verbrannte. Meine Krankenschwester war schon weggegangen, und sie hatte vergessen, jemandem zu sagen, dass ich allein im Behandlungszimmer war. Mit einem kochenden Wasserkessel.

Als die Leute das Zimmer betraten, war der Kessel schon leer. Die Kesselseite war weißglühend, grauer Rauch floh aus dem Herd. Ich schlief neben dem Herd in meiner Wiege.

Am nächsten Tag sagte niemand meinen Eltern, was passiert war. “Alles lief supergut”, sagte die Krankenschwester. Erst nach fünf Jahren konnte die Freundin das Geheimnis nicht mehr für sich behalten. Die Krankenschwester war in diesem Zeitpunkt schon gestorben.

Foto: Daan Stevens – Unsplash

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