Die Märchenstadt

Seit Tagen ist die Straße von Autos und Menschen laut. Normalerweise würde es mich beim Kaffeetrinken stören, aber diesmal ist alles anders. Die Weihnachtsstimmung spürt man in der Luft. Der Dampf des schaumigen, braunen Milchkaffees beschlägt auf das Fenster und verblasst es in einer ovalen Form. Während ich das Fenster mit meiner Hand abwische, erscheinen die goldenen Sternendekos auf der Straße. Einer nach dem anderen. Im Winter habe ich immer das Gefühl, das wir in einer Märchenstadt leben. Der Weihnachtsbaum, die Lichter, die Schneeflocken auf der Straße, der Waffelwagen, die Nikolausfiguren am Fenster des Schokoladenladens. Und der Wald, den man vom Fenster nicht sieht, aber weiß, dass es die kleine Stadt aus allen Richtungen umgibt. Die riesigen, weißhaarigen Tannenbäume wachen über die Stadt. Keiner hat Zweifel daran, dass sie bis zum Himmel reichen.

Während ich meinen Kaffee schlucke, erblicke ich den Verkäufer des Spielwarengeschäftes. Er gibt seine Gewohnheiten auf und zieht sich Stiefel an. Er hat dieses Jahr lange ausgehalten. Als die ersten bunten Blätter von Bäumen fielen, lief er immer noch barfuß durch die Straßen. Sein Sohn wollte die Familientradition nicht unterbrechen, so lief er auch barfuß. Niemand schaute sie deswegen komisch an. Sie wohnen hier. Sie sind einer von uns.

Der Dönerwagen biegt in die Straße ein. Der dunkelhaarige Mann parkt sein Auto vor dem Spielwarengeschäft und schlägt sein Schild mit einer bestimmten Bewegung in den Schnee hinein. Er legt seine Hände an die Hüfte, und schaut mit zusammengepressten Augen auf die andere Straßenseite, wo neulich ein anderer Dönerladen eröffnete. Nach einigen Minuten dreht er sich widerspenstig um, geht in seinen Wagen hinein und schlägt die Tür zu. Wieder mit einer bestimmten Bewegung. Der Besitzer des Dönerladens drüben kümmert sich nicht um ihn. Er plaudert mit den Gästen, flirtet mit der Verkäuferin vom Schokoladenladen, dirigiert die Lieferanten mit heftigen Handbewegungen, dann geht er wieder hinein.

Ich erblicke ein kleines Schild um die Ecke, vor der Kneipe. Ich rücke meinen Kopf näher zum Fenster, um es lesen zu können. Zu Verkaufen. Oh nein, denke ich und von der Überraschung schüttele ich meinen Kaffee auf die Fensterbank. Ein hellbrauner Fleck verbreitet sich auf dem grauen Marmor. Ich kümmere mich aber nicht darum, ich kann nur an den armen Manfred denken. Sein Lokal ist seit Monaten nicht profitabel. Und der Lockdown hat ihm den letzten Todesschlag gegeben. Er stellte sogar sein Fahrrad zum Verkaufen ins Fenster. Armer Manfred. Ein schwarzer Fleck auf dem Gesicht der Märchenstadt.

Es wird langsam dunkel. Vor dem Schokoladenladen schalten sich die Lichter an und beleuchten die Nikolausfiguren. Die Besitzerin kommt mit einer Tasse heißen Schokolade heraus. Sie trägt einen Pelzmantel mit passendem Hut und schwarze Stiefel mit hohem Absatz. Obwohl ich es nicht klar sehen kann, weiß ich genau, dass sie es mit Sahne trinkt. Sie ist die Dame in der Straße. Es wäre nicht würdig zu ihr, heiße Schokolade ohne Sahne zu trinken. Selbst die Döner Männer würden es nie wagen, ihr gegenüber respektlos aufzutreten.

Es wird immer dunkler, die Verkäuferinnen von der Bäckerei laufen schnell hinaus, um eine letzte Zigarette zu rauchen. Sie ziehen ihre Schulter wegen der Kälte zusammen. Ich tue es auch, als ich in dem Lampenlicht die fliegenden Schneeflocken erblicke. Ich richte meine Augen nach unten. Meine Tasse ist leer, der Kaffeefleck ist aufgetrocknet. Ich zünde ein paar Kerzen an und setze mich zufrieden auf die Couch. Es ist Zeit für etwas Tee.  

Foto: www.pixabay.com

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