2016, 21:30 Uhr. Was für ein schöner Tag war es heute. Den Geschmack der neapolitanischen Pizza spüre ich immer noch in meinem Mund. Und die warme Luft, die zart meine Haare blies, während wir mit dem Motorrad durch den Wind sausten. Das Beste kommt aber erst jetzt. Wir kommen eine Stunde früher an der Küste an, damit wir einen guten Platz finden können. Die Promenade füllt sich mit Menschen, wir setzen uns auf die Steinbank, die die Promenade des Anglais umgibt. Wir sind dem Meer ganz nahe. Wir sehen das ewige, blaue Wasser und den Himmel, der langsam dunkel wird. Der beste Ausblick. Wir merken es kaum, wie schnell die Zeit mit Plauderei und Lachen verfliegt. Am Himmel erscheint das erste Streiflicht, dem das nächste folgt. Einmal rot, einmal blau, einmal grün. Jedem Abschuss folgt ein Jubel seitens der Zuschauer. Ich bleibe still, aber das Lächeln kann mir niemand vom Gesicht abwischen. Nur ein paar Wochen noch und ich ziehe nach Frankreich. Das Feuerwerk betrachte ich als meine persönliche Feier. Als ob jeder Stern jetzt mich begrüßen wollte.
22:20 Uhr. Das Feuerwerk endet, es ist schwierig, sich zu bewegen. Überall wohin das Auge sieht, sind Menschen. Alte und junge, Erwachsene und Kinder. Jeder feiert den französischen Nationalfeiertag, den 14. Juli.
22.30 Uhr. Endlich können wir auch mit der Menschenmenge losgehen. Wir gehen gemütlich über die von Palmen umgebene Promenade. Von links hört man das Murmeln der See. Es gibt nichts Schöneres als die Nächte an der Küste von Nizza. Unerwartet bleibe ich stehen, wende mich schüchtern an meinen Freund und teile ihm mit, dass ich vorhin wahrscheinlich zu viel Aperol getrunken habe und dringend auf die Toilette muss. Er lacht und schlägt vor, in der Altstadt in eine Bar zu gehen.
22:40 Uhr. Zehn Minuten später. Wir sitzen in unserem Lieblingspub am Fenster und schauen uns gemütlich die Speisekarte an. Im Hintergrund läuft laute, irische Musik. Als ich mich nach hinten drehe, merke ich, dass eine Frau mit zwei Kindern erschreckt in den Pub läuft. Sie sagt dem Kellner etwas. Sie gestikuliert heftig, während sie mit dem Finger nach außen zeigt. Der Kellner lässt sie rein und danach läuft er selber nach hinten ins Büro. Ich schaue aus dem Fenster. Ein Mann läuft vor dem Pub weg. Kurz darauf sehe ich wieder eine Frau mit Kindern. Alle laufen. Nicht wie jemand, der den Bus erreichen möchte. Diese Menschen fliehen. Mein Freund und ich sehen einander an. Etwas ist seltsam draußen. Ich öffne das Internet auf meinem Handy. Die ersten Nachrichten berichten über eine Schießerei. Ich schicke eine Nachricht an meine Mutter: „Angeblich hat jemand in Nizza geschossen. Mach dir keine Sorge, falls du davon hörst. Ich bin in Sicherheit.“ Wegen der irischen Musik hören wir den Lärm der Straßen nicht. Wie ein surrealistischer Film. Fröhliche Musik und fliehende Menschen.
23:00 Uhr. Ein Barkeeper tritt auf die Bühne, schaltet die Musik aus und bittet jeden, den Pub nicht zu verlassen. Er redet auch von einer angeblichen Schießerei. Ich schaue wieder aus dem Fenster. Es läuft kein Mensch mehr draußen. Die Straße ist tot leer. Es sieht wie eine unbelebte Straße in einem Western Film aus. Nur die rollenden Strohballen fehlen. Meine Aufmerksamkeit teilt sich zwischen den besorgten Nachrichten meiner Mutter und der Nachricht, die mein Freund vorliest. Es gebe nicht nur Schüsse, sagt er. Jemand sei mit einem Lastwagen über die Menschen gefahren. Der Artikel berichtet von mehreren Toten. Die Menschenmenge war zu dicht. Sie hatten keine Chance zu fliehen.
23:30 Uhr. Mein Freund entscheidet sich, nach Hause zu gehen. Wir können nicht länger hierbleiben, erklärt er. Die Wohnung ist nur zehn Minuten zu Fuß. Ich zucke zusammen. Zehn Minuten. Jetzt weiß ich schon, wieviel zehn Minuten bedeuten. Manchmal ein ganzes Leben. Wir laufen zur Wohnung. Die kleinen Straßen der Altstadt sind leer. Von zu Hause ruft mein Freund seinen Kollegen an und erklärt lächelnd, dass mein unhaltbares Bedürfnis für die Toilette uns heute das Leben gerettet hat. Das klingt noch surrealistischer als der Anblick der erschreckten Gesichter mit der irischen Musik. Am nächsten Tag laufen nur bewaffnete Soldaten und Polizisten draußen. Aus der lebhaften Stadt wurde ein stiller, trauriger Ort.
16:00 Uhr, zwei Tage später. Erst am Nachmittag gehen wir wieder hinaus. An der Promenade liegen Blumen und Plüschtiere. Das Meer ist genauso blau wie immer, aber seine Stimme klingt nicht mehr wie eine Melodie, eher wie ein Trauerlied.
16: 30 Uhr. Wir setzen uns auf eine Bank, jetzt aber nicht direkt am Meer. Ich nehme mein Handy hervor, um die Nachrichten zu lesen.
16:40 Uhr. 86. Die Anzahl der Toten.
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