Online-Unterricht 2

„Mama, ich habe morgen Schwimmunterricht.“
„Äh? Wo?“
Das muss bestimmt ein Scherz sein. Während der Pandemie sind nicht nur alle Hallenbäder zu, das ganze Land bleibt daheim.
„Über Zoom“, berichtet meine Tochter.
„Soll ich dir die Badewanne voll machen?“, lache ich.
„Nein, ich schwimme im Wohnzimmer“, meint sie todernst.

Als sie am nächsten Tag ihre Schwimmstunde hat, schaue ich wie ein Kleinkind vorm Süßwarenladen durch das Türglas, wie sie vor dem Tablett im Wohnzimmer hüpft und mit den Armen kreist. Ich unterrichte nämlich auch Kinder, die jetzt allein zu Hause Russisch lernen müssen. Bis jetzt bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, ihnen online-Unterricht anzubieten. Ich überlege.

Also, wenn schon meine Tochter über Zoom schwimmen kann, dann schaffen wir mit links, online schreiben zu lernen. Schon am Abend sende ich mein Angebot an die Eltern und rechne mit vielen Absagen. Aber ich liege falsch. Hundert Prozent Teilnahme. Echt zum Staunen.

Am Tag des Unterrichts bin ich total nervös. Schon eine Stunde vorher bereite ich das Material vor, prüfe die Internet-Verbindung, das Programm, und warte. Meine größte Sorge ist: Wie sollten die Fünfjährigen aus der ersten Gruppe eine ganze Stunde vor dem Monitor sitzen, wenn sie sich nicht mal zehn Minuten lang in der Klasse konzentrieren können? Ich weiß es nicht.

Die Kinder erscheinen eins nach dem anderen. Der Unterricht beginnt. Meine Stimme zittert. Meine Handflächen sind feucht. Aber die Kinder finden unsere Stunde total spannend. Sie sitzen wie geklebt vor dem Monitor, antworten um die Wette auf die Fragen und erledigen brav alle Aufgaben. Das Problem kommt, woher ich es nicht erwartet habe. Von den Eltern.

Als erstes stelle ich fest, dass ich Mischa fast nicht hören kann, da das Mikrophon zu weit weg ist. Aber seine Mama kriegt es nicht hin, das zu ändern. Unwillkürlich rede ich lauter und werde noch lauter, als der kleine Bruder von Tanja neben dem Computer weint. Vladislaw sitzt vermutlich in der Küche, das Geschirrklirren ist trotz des weinenden Babys nicht zu überhören. Verstehen die Eltern nicht, dass man alles hört? Anscheinend nicht.

Bei Mascha im Hintergrund bemerke ich ihren Papa in Unterhose, der im Nebenzimmer steht und mit jemandem, den ich nicht sehen kann, streitet. Die Stimmen werden immer lauter.

„Mascha, mein Schatz, könntest du bitte die Tür schließen?“, schreie ich beinah.

Während Mascha unterwegs ist, merke ich, dass ich jetzt Andrey überhaupt nicht hören kann. Sein Papa hat das Mikrophon ausgeschaltet und ist nicht mehr da. Dafür höre ich aber eine andere Mama, die jede Minute den armen Artem direkt ins Mikrophon ausschimpft. Plötzlich verstummt das Baby, Mascha hat bereits die Tür geschlossen.

„Sitz! Schreib! Bist du dumm?! Was habe ich gesagt?!“, donnert es in unseren Ohren.

Wenn es so weiter geht, haben alle Kinder bald keine Lust mehr auf den Unterricht. Ich bin schon bereit, unhöflich zu werden, als bei ihr das Handy klingelt. Es scheint mir wie ein Wunder, dass sie auf die Idee kommt, ins andere Zimmer zu gehen. Wir bekommen etwas Ruhe.

Als die erste Stunde endlich vorbei ist, beschwert sich meine Familie, dass ich so laut geredet habe, dass alle unsere Nachbarn bestimmt auch Russisch gelernt haben. Ich hab nicht mal die Kraft zu lächeln. Es ist Zeit für die andere Gruppe.

Wieder erscheinen die Kinder pünktlich zum Meeting. Sie sind etwas älter, sitzen ruhiger und reden höflich einer nach dem anderen. Aber ich sehe Lena nicht.

„Lena, Schatz, du hast eine wunderschöne Deckenlampe, aber könntest du vielleicht deine Mama bitten, die Kamera nach unten zu richten?“

Sofort erscheinen auf dem ganzen Bild zwei große Brüste, die fast aus dem Nachthemd rutschen. Die Jungs kichern. Ich gerate in Panik, aber sie verschwinden genauso schnell wieder und wir sehen Lena. Ich atme erleichtert aus. Der Unterricht läuft weiter.

Als die älteste Gruppe an der Reihe ist, bin ich schon ganz entspannt. Hier kann nichts schief gehen. Alle sind schon groß genug und vernünftig. Mehrere gehen aufs Gymnasium. Ich starte das Meeting.

Der erste Junge erscheint auf dem wunderschönen Meer-Hintergrund. Über seinem Kopf hängt die Palme und alle Arbeitsblätter, die er mir zeigen will, werden von dem Hintergrund bereits verschluckt. Aber ich bekomme keine Zeit, ihn ordentlich zu schimpfen, da gerade der zweite das Meeting beitritt. Captain99 steht da als Name.

„Captain99! Schalte bitte dein Video an!“, sage ich und warte. Das Bild bleibt schwarz.

„In der Schule dürfen wir ohne Video…“, meint Captain99. Na schön. Wenigstens, weiß ich jetzt, wer dahinter steckt. Arme Lehrer.

Langsam und mit Verspätung erscheinen die anderen. Sie grüßen einander laut. Ich versuche alle stumm zu schalten, aber es klappt nicht. Oder schalten sie sich wieder ein?

„Ruhe, wir fangen an!“, rufe ich mehrmals und versuche, die Aufgaben zu verteilen.

Aber selbst ich kann mich nicht konzentrieren. Aus dem Augenwinkel merke ich, dass zwei Schüler miteinander chaten und können sich nicht mal ein Grinsen verkneifen. Haben sie mir bereits Eselsohren angefertigt? Egal. Ich rede weiter. Igor, der sonst immer brav war, fängt an, sein Video ein- und auszuschalten. Zwei jüngere Mädels finden das total lustig und kichern. Andere verdrehen die Augen.

„So, jetzt wird gearbeitet! Sonst bekommt ihr doppelt so viel Hausaufgaben, wie ich geplant habe“, schimpfe ich und bekomme endlich ein wenig Aufmerksamkeit.

„Noch 43 Minuten bis zum Ende“, berichtet Sergej.

Noch so lange? Ich schau auf die Uhr. 42 Minuten. Hilfe.

„Anja, lies bitte deine erste Aufgabe vor“, ordne ich.

Anja liest, aber ich höre nichts.

„Peter, kannst du bitte dein Mikrofon ausschalten, während du Chips isst?“, schimpfe ich und merke, wie das Bild von Max flackert.

„Maxim, dein Laser kann keiner durch die Kamera blenden. Bitte, konzentriere dich auf deine Aufgabe. Oder bist du schon fertig?“

„Nein, noch nicht.“

Der rote Fleck verschwindet von seinem Bild und ich sehe Max, der wieder etwas schreibt. Anja versucht, weiter zu lesen.

Nachdem der letzte Unterricht vorbei ist, bin ich todmüde, als ob ich den ganzen Tag wilde Makaken trainieren musste. Mein Hals kratzt, im Kopf pochen immer noch Stimmen… Ich lege mich hin und plötzlich begreife ich, dass mir noch mehrere online-Stunden bevorstehen. Ich schließe die Augen. Bitte, lass die Pandemie schnell enden. Ich will wieder an meinen Pult zurück!

Irgendwann ist die strengste Phase der Quarantäne doch vorbei. Heute darf meine Tochter endlich präsent am Schwimmunterricht teilnehmen. Draußen, am Fußballplatz. Als wir schon im Auto sitzen und hinfahren, denke ich, dass ein Online-Unterricht trotz allem doch seine Vorteile hatte.

Foto: www.pixabay.com

Falls Sie einen Rechtschreibfehler finden, teilen Sie uns dies bitte mit, indem Sie den Text auswählen und dann Strg + Eingabetaste drücken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fehlerbericht

Der folgende Text wird anonym an den Autor des Artikels gesendet: