von Anna-Katharina Kürschner
Auf der Unitoilette ist es sauberer als auf einem Schulklo. Awareness-Aufkleber „wollen, dass Sie sicher studieren können.“ Angesprochen fühle ich mich nicht und am anderen Ende der Telefonnummer wartet ein Mitarbeiter von Securitas, der Pornos auf seinem Handy unter dem Pressspan des Empfangstresens schaut. Ich bleibe länger als nötig in der Kabine und starre Muster in die geflieste Wand. Gegen fünfzehn Uhr schickt mir Tristan ein Foto von seinem Schwanz. Ich drücke die Spülung und muss lächeln, als ich daran denke, wie ich im Auslandssemester der Gruppe das Konzept des Weg-Biers erklärt habe. Das war einer dieser Momente, in denen ich voll da war und die anderen an meiner Seite gefühlt habe. Für fünfzehn Sekunden haben sie mir zugehört und gelacht. Ich fädle meinen Oberarm durch den Henkel meiner Büchertasche. Sie wiegt schwer.
Auf dem Weg nach unten entscheide ich mich für den Fahrstuhl neben der Bibliothek. Allein in dem Metallgehäuse hört die Öffentlichkeit auf. Ich könnte irgendwo sein. Geborgen und eingepfercht stehe ich in der Mitte. Als die Tür aufspringt, widerstehe ich dem Impuls, einfach stehen zu bleiben, bis sich der Raum wieder verschließt. Wie sieht es in einem geschlossenen Fahrstuhl ganz ohne Fahrgäste aus? Als ich das mit dem Weg-Bier bei einer anderen Gelegenheit wieder erwähnte, hörte mir keiner zu. Der aus Madrid schenkte mir das schnelle Nicken einer Kenntnisnahme, die es noch schmerzhafter machte, dass er sich dann wegdrehte und über etwas Neues lachte. Als ich aus dem Gebäude trete, ist es kalt. Ich fummle die Kopfhörer aus der Jackentasche. Auf meinen Ohren singt Sierra, komm wir frieren uns reich. Der Henkel der Büchertasche schneidet in meine Schulter.
Bestimmt tun den Bäumen unter dem Asphalt die Wurzel weh. Ich stelle mir vor, wie jemand meine Zehen in Beton eingießt. Unwillkürlich werde ich schneller. Ich reiße mich zusammen. Es könnte regnen oder nicht. Während ich gehe, halte den Blick bei mir. Mein Schlüssel ist unten in der Tasche und ich grabe ihn mit den Fingerspitzen hervor. Die Tür klemmt, immer. Die Treppenstufen im Wohnheim sind mit großen Gumminoppen versehen. Wenn ich ganz oben bin, schaue ich am Geländer vorbei. Ich habe einmal einen Artikel gelesen, in dem es um den absurden Drang zu Springen ging. Auch gesunde Menschen spüren einen Sog aus der Tiefe. Ich frage mich, wer wohl den Sanitätern die Wohnheimstür öffnen würde.
Ich nehme keine Drogen, um mich zu betäuben. Knieaufwärts liege ich auf meinem Bett, die Füße wurzeln noch in den feuchten Sneakern auf dem Boden. Mein Smartphone wird von meiner Bauchdecke ins Standby gewiegt. Tristan antworte ich nicht oder später. Für meinen Bruder habe ich mir früher eine Schnitzeljagd ausgedacht. Die Schatzkarte habe ich über der Spüle angekokelt. Sonst habe ich nie etwas angezündet. Jemand hat die Schnürsenkel um meine Kehle zu fest verknotet, aber vielleicht bekomme ich auch eine Halsentzündung. Ich zerre an den abstehenden Enden meiner Nagelhaut bis es blutet. Wenn ein Streifen abreißt, habe ich ein Stück von mir zwischen den Fingern. Ich richte mich halb auf und schnipse es weg. Mein Blick bleibt daran hängen, auch als es auf dem Boden liegt. Ein Fitzel ich auf dem Laminat.
Bei Prisca steht keine Nagelhaut ab. Sie versteht sich gut mit ihrem Bruder. Am Fahrradfahren mag sie am liebsten den Wind in den Augen. Prisca isst die Marzipancroissants vom italienischen Café um die Ecke, in dem sie den Kaffee oft billiger bekommt. Wieso, ist noch etwas, was ich sie nicht fragen kann. Während des Videocalls des Jahrgangs trägt Prisca ihren Laptop unbekümmert durch die Wohnung. Sie stellt ihn auf den Küchentisch, der weder sauber noch dreckig ist, und fängt an, einen Brotteig zu kneten. Ich checke vor dem Aktivieren des Kamera-Ikons fünfmal den Winkel, um ein Doppelkinn oder benutztes Geschirr auszuschließen. Krümel auf dem Küchentresen beschmutzen Prisca nicht. Ich sage nichts und wenn ich aufs Klo muss, lasse ich die Kamera nicht an.
Die Jahrgangsgruppe vibriert auf meinem Bauch. Ich tippe den Pin mit halb geschlossenen Augen ein. Jemand will wissen, wann die Sprechstunde ist. Wer antwortet, hängt nicht davon ab, wer die Antwort weiß. Es gibt Regeln. Ich schreibe niemals in den Gruppenchat. Ich lese alle Nachrichten. Ich lerne sie auswendig. Jemand postet einen Aperol unten am Main. Ich gehöre nicht dazu. Ich schicke Tristan ein Foto meiner Brüste. Ich berühre mich nie.
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