Borsch und Freundschaft

„Kannst du dir vorstellen, jetzt muss ich zwei Wochen Antibiotika nehmen!“, sagt meine Freundin vielversprechend.

Ich seufze, drücke mein Handy mit der Schulter ans Ohr und hole Gemüse aus dem Kühlschrank. Dieses Mal habe ich mindestens Glück, da sie mich beim Kochen erwischte.

„Oje, was ist passiert?“, frage ich und schäle die erste Karotte. Heute steht russischer Borsch auf der Speisekarte. Die leichte Version.

Eigentlich kennen wir uns seit eine Ewigkeit. Genau genommen, seit den Studentenzeiten. Damals waren wir die besten Freundinnen für immer und ewig, plauderten stundenlang über alles: von Jungs bis zur Weltpolitik und hatten große Pläne fürs Leben. Ja, Plaudern mag sie immer noch. Nur…

„Du wirst es nicht glauben!“, sagt sie und legt eine Pause ein. Ich nehme einen Topf und fühle ihn mit Wasser.

Ehrlich gesagt, verstehe ich sie schon lange nicht mehr. Trotzdem, versuche ich immer noch, ihre beste Freundin zu sein, zuzuhören und Ratschläge zu geben. Aber wie kann man einem Menschen helfen, der das nicht will?

Seit dem Uni-Abschluss lebt Anja in einer kleinen Wohnung. Sie hat keine Kinder, keinen Job und keine Hobbys. Sie treibt keinen Sport, besucht keine Schönheitssalone und shoppt nicht gerne. Keine große Liebe zu Bücher, keine Computerspiele, keine Freunde. Das Einzige, was ihre Welt etwas bunter macht, ist ihr Ehemann. Ein Workaholiker, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend unterwegs ist. Schon jahrelang versuche ich das Rätsel zu knacken: Was treibt sie eigentlich den ganzen Tag, um nicht vor Langeweile zu sterben? Leider weiß ich es immer noch nicht.

„Ich habe Eis gegessen!“, sagt sie triumphierend.

„Eis?!“, frage ich, lasse die geschnittenen Karotten ins Wasser fallen und nehme eine Zwiebel.

Ein Hobby hat sie schon: ihre Gesundheitsprobleme. Sie sammelt sie sorgfältig und ist ständig auf der Suche nach neuen.

„Ja, und jetzt tut mir der Hals höllisch weh! Ich kann fast nicht mehr schlucken.“

„Oh, das tut mir leid“, schluchzte ich, die Augen voller Tränen, und versuche die geschnittene Zwiebel so schnell wie möglich in den Topf zu schütteln.

„Das Antibiotikum ist bestimmt nicht das Richtige“, beschwert sie sich. „Mir ist schon seit drei Tagen übel, und ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll. Mit meinen Magen-Darm-Problemen, weißt du!“

Ja, und sie kann stundenlang davon erzählen.

„Hast du mit dem Arzt gesprochen?“

Ich ziehe die Handschuhe an und nehme eine große Rote Beete in der Hand. Das letzte Mal, als ich die Handschuhe vergessen habe, waren meine Finger noch drei Tage lang rot.

„Ja, der hat mir irgendein Mist verschrieben. Es geht mir nur noch schlechter. Ich überlege, nach Stuttgart zu fahren. Zu dem Arzt, den ich vor fünf Jahre hatte.“

Den Ärzten traut sie auch nicht. Sie springt von einem zum anderen, lässt sich verschiedene Medikamente verschreiben und nimmt sie, da bin ich mir sicher, nur um zu bestätigen, dass sie nicht wirken.

„Ist es nicht etwas zu weit, 250 km?“, frage ich, als ich die Rote Beete schneide.

„Ja, schon. Aber die Ärzte hier sind total komisch.“

Ich lasse die geschnittene Rote Beete in den Topf fallen und sehe zu, wie das Wasser sich rot färbt.

„Dieser hier hat mir nicht mal einen Halsabstrich gemacht. Ich habe ihm gesagt, dass ich…“

Ich lege das Telefon an mein anderes Ohr und hole die restlichen Zutaten: konservierte rote Bohnen, Sauerkraut, Zucker, Salz, Pfeffer, Essig und Sonnenblumenöl. Lasse das Wasser im Topf paar Minuten kochen und füge eine Zutat nach der anderen hinzu.

Eigentlich braucht sie keine Ratschläge oder Hilfe. Einmal, als ich das noch nicht begriff, schlug ich ihr vor, auf den täglichen Kuchen zu verzichten und mit dem Sport anzufangen. Sie litt schon damals an Übergewicht und meiner Meinung nach, war das die Ursache vieler ihrer Probleme. Natürlich war sie sofort beleidigt und wollte nicht mehr mit mir reden. Nach einem halben Jahr entdeckte sie eine brandneue Krankheit bei sich und rief mich trotzdem an.

„Wie geht es Maxim?“, versuche ich das Gesprächsthema zu ändern.

„Oh, du wirst es nicht glauben, ihn hat vor zwei Wochen eine Zecke gebissen. Der Arzt wollte zuerst gar kein Antibiotikum verschreiben, aber als Max Fieber bekam…“

Naja, zumindest habe ich es versucht. Ich gehe in den Garten und hole mir Schnittlauch aus dem Gemüsebeet. Letzte Zutat. Verkleinert streue ich ihn in den Topf, setze den Deckel auf und schalte den Herd aus. Der Borsch ist fertig.

„Oh, herzliches Beileid und Grüße von mir.“ Ich wische die Kuchenplatte ab und wasche die Hände. „Du, ich muss leider weiter. Wir hören uns“, sage ich und spanne mich an, wie ein Tiger vor dem Sprung. Wenn ich jetzt nicht schnell auflege, verabschieden wir uns noch zwei Stunden lang.

„Oh, habe ich dir schon erzählt, dass mein Arzt vermutet, dass ich noch…“, redet sie weiter. Hat sie mich nicht gehört?

„Anja!“, unterbreche ich sie. „Ich muss jetzt meine Tochter zum Sport bringen, sonst kommen wir zu spät.“ Eigentlich muss ich es wirklich, aber erst in einer Stunde.

„Wie geht’s deiner Tochter? Geht sie immer noch zum Schwimmunterricht?“, fragt sie. „Du sollst dir das besser überlegen. Chlor ist sehr schädlich für die Gesundheit… Und noch diese ständige Fußwarzen…“

„Sorry, Anja, aber wir müssen jetzt wirklich losfahren. Mach’s gut. Und noch Mal gute Besserung.“

„Ja, danke, ich hoffe, der andere Arzt kann mir ein besseres Antibiotikum…“

„Ich drücke dir die Daumen“, sage ich schnell. „Jetzt muss ich tatsächlich los. Wir sprechen uns noch. Tschüss!“

Ich lege auf. Puh.

Ich gehe in den Garten und lasse mich für ein paar Minuten in die Schaukel fallen. Für heute habe ich unsere Freundschaft überstanden.

Foto: www.pixabay.com

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