Kastanien und Blätter

von Edith Haim

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

„Vince, warte auf mich. Warte!“

Emily versuchte ihren Bruder einzuholen, der bereits hinter einer Reihe Bäume verschwunden war und rutschte fast auf dem gefallenen Herbstlaub aus.

„Warte doch!“

Der kühle Wind spielte mit ihren Zöpfen und als er diese nicht forttragen konnte, ging er zu einem Teppich aus Blättern über, den er aufstob und Emily heiter um die Ohren wirbelte. Fröstelnd zog sie sich den Schal über das zierliche Kinn und betrat den Wald auf einem Trampelpfad, den wohl eine Herde Rehe ausgetreten hatte. Zweimal schon hatte sie diese scheuen Tiere gesehen, doch nur in den Zoos, die ihre Familie an Geburtstagen besuchte. Ihr Bruder Vincent hatte versprochen, ihr heute ein wildes Geschöpf zu zeigen, wenn sie ihm nur in den Wald oberhalb der Felder ihrer Eltern folgte. Mit seinen neun Jahren glaubte er, seiner kleinen Schwester diesen Ausflug als Mutprobe verkaufen zu können, doch sie hatte nie Angst vor den wispernden Bäumen oder den scheuen Wesen der Wälder verspürt. Die wachsende Dunkelheit hingegen fürchtete sie durchaus.

„Wo bist du, Vince? Komm raus. Es ist schon spät.“ Ein Rabe antwortete mit heiserem Krächzen. Die Schatten am Boden wiegten sich im Wind. „Das ist nicht lustig“, rief die Kleine erneut. „Vince! Vin…“

„Buh!“

Emily fuhr so erschrocken herum, dass sie ihrem Bruder eine schwache Ohrfeige verpasste, ehe sie auf dem verfärbten Laubboden ausrutschte und unsanft zum Sitzen kam. Trotz seiner nun geröteten Wange und den finsteren Blicken seitens seiner Schwester brach Vincent in schallendes Gelächter aus.

„Dein Gesichtsausdruck… Genial…“ Er wehrte Emily´s lieblose Schläge ab und japste nach Luft. „Wieso klappt das immer wieder?“

„Du bist doof.“ Mit Schmollmund rappelte sich Emily auf und wischte die Erde von ihrer Hose. „Schau, deinetwegen wird mich Mama wieder schimpfen. Spüre… meine Rache.“

Aus dem Nichts warf sie eine Kastanie nach ihrem Bruder, der auf der Stelle zum Gegenschlag ansetzte. Mehrere geflogene Kastanien und schmerzerfüllte Schreie später beendeten sie ihre kleine Schlacht. Jeder sammelte seine Wurfgeschosse ein – aus ihnen würden sie zuhause Figuren und Dekoration basteln – und verstaute sie in den etlichen Taschen ihrer Kleidung. Nur eine warf Emily enttäuscht zurück auf den Boden. Im Spiel war Vincent wohl darauf gestiegen und hatte einen schmalen Riss in der Schale hinterlassen. Damit war nichts mehr anzufangen.

„Emily, kommst du?“

Wie ein großer Musterbruder nahm Vincent die Kleine nun an der Hand und führte sie den Rest des Weges – mit der um sich greifenden Dunkelheit im Nacken – beschützend nach Hause. Aus den gesammelten Kastanien bauten sie in den folgenden Tagen fabelhafte Wesen und hinreißende Verzierungen. Mit dem neuen Jahr aber würden sie als zusammengefallene und verschrumpelte Gebilde in Kellerkästen und Truhen vergessen werden. Im nächsten Herbst würde sich das Spiel gleichsam wiederholen.

Nur eine Kastanie war im Wald zurückgeblieben. Und eine ist mehr als genug, um auch für künftige Generationen dieses Spiel fortleben zu lassen.

Foto: www.pixabay.com

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