von Anna
„Soll ich die Schuhe ausziehen?“, fragt der höfliche Gast in der Hoffnung, dass der Gastgeber irgendwann „Nein“ antwortet.
„Schuhe ausziehen“ zählt zu den schlimmsten Kulturschocks für Italiener in Deutschland, wie der Cappuccino nach dem Essen oder im Restaurant getrennt zu zahlen. Meiner Meinung nach gibt es historische und klimatische Gründe dafür: in Italien gibt es überall Fliesen, die nicht besonders teuer sind, denn sie werden bei uns hergestellt. Deutschland musste nach dem Krieg schnell und praktisch wiederaufgebaut werden, also wurden billige und traurige Teppiche vorgezogen. Und nasse Schuhe sind auf einem grauen Teppich nicht ideal. Also hat man die Gewohnheit entwickelt, die Schuhe auszuziehen.
Allerdings hat der eingedeutschte Italiener diese Gewohnheit auch gelernt: „Die Schuhe könnt ihr anbehalten“, sagt der italienische Gastgeber in Deutschland.
Er weiß, wie umständlich es für Italiener ist. Aber er meint eigentlich: „Er wäre besser, die Schuhe auszuziehen, aber ich wäre nicht beleidigt, wenn ihr es nicht macht“.
Wenn der eingedeutschte Italiener Besuch aus Italien hat, ist das Schuhausziehen ein echter Alptraum. Die Gäste kommen herein und betreten die ganze Wohnung mit Schuhen. Wenn sie die Garderobe im Eingang bemerken, fragen sie besorgt, ob sie die Schuhe ausziehen sollten. Ohne Hemmungen sage ich immer: „Si grazie!“. Aber ich fühle mich gezwungen zu erklären, dass wir überall Holzboden haben und wenn es beim Auszug viele Kratzer gibt, behält der böse deutsche Vermieter unsere Kaution.
Noch anders ist die Einstellung der deutschen Gastgeber. Es ist für sie selbstverständlich, dass die Gäste sich die Schuhe ausziehen. Es gibt keine Gästehausschuhe, weil es vollkommen in Ordnung ist, mit nackten Füßen zu laufen. Aber es gibt mittlerweile keine hässlichen Teppiche mehr: Die meisten haben schicke Fliesen aus Italien, auf die sie sehr stolz sind. Schick, aber kühlschrankkalt. Abgesehen davon, dass es mir unangenehm ist, meine nackten Füße zu zeigen, ist es mir schrecklich kalt.
Ich fange an zu niesen.
„Ist es dir kalt?“, fragt die Gastgeberin endlich.
„Ehrlich gesagt ja“. Ich niese weiter.
„Willst du ein Paar Socken von mir haben?“
„Das wäre ganz nett von dir, danke“.
Nach zwanzig Sekunden bekomme ich weiche und warme Socke aus Wolle der Größe 41.
„Du kannst sie gerne behalten“, sagt sie zu.
Warum sollte ich ihre Socke in der Größe 41 behalten? Denkt sie, dass ich Pilze habe?
Aber diesmal habe ich die Lektion gelernt: Immer meine Hausschuhe Größe 36 mitbringen, wenn ich von Deutschen nach Hause eingeladen werde.
München, den 27.05.2019