Klatschmohnfelder

von Laura Hybner, IV Platz

Mein Abenteuer beginnt an einem verstaubten Tag in einer der kleinen Hütten zwischen der Bushaltestelle und den Klatschmohnfeldern. Hier, in Tante Emmas Hütte, habe ich ein ganzes Leben verbracht. Doch es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis mir die Abenteuer hier zu klein wurden, ich zu groß für die Abenteuer.

“Kind”, sagt Tante Emma immer.

“Kind”, sagt Tante Emma immer, wenn der Staub der Straße gegenüber sich durch die Vorhänge drückt und dunkle Wolken verheißungsvoll sanfte Tropfen ankündigen, “hier ist kein Platz für das Leben”

An Tagen wie diesen folge ich Tante Emmas Blick aus dem Fenster der Hütte, frage mich, wie viele der Schemen draußen sie noch wahrnehmen kann. Tante Emma hat nie woanders gelebt. Auch ich dachte lange, dass hier mein Platz ist. Doch je mehr Tante Emma mit dem Staub verblasst, desto mehr brennt es mich unter den Fingernägeln herauszufinden, was hinter den Feldern liegt.

Ich stelle den Teller mit der kargen Suppe und der Scheibe Brot vor Tante Emma. Erst nach ein paar Minuten legt sie ihr Strickzeug zur Seite.

Ich habe das Klappern der Nadeln nur am Rande wahrgenommen. Die Welt wartet hinter den Klatschmohnfeldern auf mich. Aber Tante Emma würde nicht warten, bis ich von der Welt zurückkomme.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass Tante Emma die Welt nur mehr getrübt wahrnimmt, dass ihr Blick gefärbt ist. Ihren Augen fehlt das Licht.

Zwei Mal am Tag hält der gelbe Bus auf der anderen Seite der kleinen Hütte.

“Nach dem Regen wird der Mohn blühen”, stellt Tante Emma fest und ich schließe meine Augen, höre den Regen beinahe schon in schweren Tropfen auf der Straße prasseln, den Staub von dem Wellblechdach waschen, die noch geschlossenen Blüten des Klatschmohns mit Wasser benetzen.

Tante Emma wird Recht behalten. Sie hat immer Recht.

“Du weißt, dass die Zeit gekommen ist”, sie hat gerade den letzten Löffel Suppe zu ihrem Mund geführt.

“Aber ich kann dich nicht alleine lassen”

“Ich bin mit dem Mohn aufgewachsen, ich werde auch mit ihm sterben”

Und plötzlich ist mir klar geworden, dass der Tag des Abschiedes gekommen ist. Dass der Tag einer ist, bevor der Klatschmohn blüht. Ein Tag bevor Tante Emma sterben wird.

“Lass mich dein Gesicht noch einmal spüren, Kind”, sagt Tante Emma, bevor ich durch die unversperrte Tür gehe, das Klappern von Tante Emmas Stricknadeln im Ohr.

Foto: www.pixabay.com

Falls Sie einen Rechtschreibfehler finden, teilen Sie uns dies bitte mit, indem Sie den Text auswählen und dann Strg + Eingabetaste drücken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fehlerbericht

Der folgende Text wird anonym an den Autor des Artikels gesendet: