von Jacqueline Koshorst
Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche
Ein Regentropfen fällt ihm ins Auge, als er auf unbeholfenen Beinen die Straße entlangstolpert – er versteckt sich zwischen den heißen Tränen auf seinen bleichen Wangen und verschmilzt mit ihnen als gehöre er dazu, auch wenn er nicht aus derselben Quelle geflossen ist. Er war nie gut im Rennen, aber er zweifelt daran, dass das der Grund ist, dass seine Lungen sich jetzt nicht füllen wollen; dass bevor sie auch nur halb voll sind, sie die Luft wieder aus ihm herauspressen als sei das Atmen gefährlicher als das Ersticken. Er kann es sich nicht verkneifen an Alex zu denken, die ihn immer skeptisch ansah, wenn er mit leuchtenden Augen davon sprach, wie sie einmal die Welt erkunden, wie sie jedem Gefühl zu seiner vollen Intensität nachjagen und das Leben erleben würden.
Hast du dich schon sattgesehen?, würde sie ihn jetzt mit spöttischem Blick fragen, wenn sie ihn sehen könnte, Hast du genug gefühlt? Bist du das Erleben schon leid?
Er würde es ihr nicht sagen, doch Alex hat noch nie verstanden, was er mit all dem meint. Sie erlaubt es sich nicht; Alex hält sich an Dinge, die sie schon hat, die sie schon sieht, die sie schon fühlt, und hat sich noch nie getraut, selbst in ihren Träumen nach mehr zu suchen. Vielleicht ist das vernünftig in einer Welt, die so viel gefährlicher ist für sie als für ihn, doch er hat noch nie verstanden, wie man es ohne Träume in einem so grauen Dasein aushält. Wie viele Male waren Träume das einzige, das ihn davon abgehalten hatten, im Grau zu verschwinden?
Vielleicht hatte sie diesmal recht, nur dieses eine Mal, auch wenn er es nicht zugeben will. Ja, in diesem Moment wünscht er es sich fast zurück, so wenig zu fühlen, wie er es so lange getan hatte, wünscht sich die gedämpften Stimmen zurück und den weißen Nebel, der früher über allem hing. Denn wenn alles so weit weg ist, in einem Raum umschlossen von Plexiglasscheiben, dann kann es sich wenigstens nicht so anfühlen wie dieser Moment, dieser bebende-Beine-kalte-Hände-verschwommene-Sicht Moment, in dem er weiter und weiter rennen kann, wie er will, aber dem Gefühl doch nie ausweichen wird.
Doch Alex ist nicht hier, um ihm zu sagen, wie dramatisch er ist, wenn er so die Straße hinunterrennt, oder um ihm an all seine großen Worte zu erinnern, nur um ihm dann trotzdem in den Arm zu nehmen, bis er aufhört zu zittern. Sie ist fort mit all den anderen, an irgendeinem sichereren Ort ohne Regen und kalten Schweiß und protestierende Lungen. Er rennt und rennt, ohne zu wissen, wo er ist, und sie sind dort an irgendeinem Ort, an den er ihnen nicht folgen kann. Er ist gegangen, um zu leben und sie sind geblieben, und vielleicht sind sie alle glücklicher und er war größenwahnsinnig und naiv und hätte einfach zu schätzen wissen sollen, was er hatte. Dumm nur, denkt er und biegt in eine Seitengasse ab, dumm nur, dass mein kleines, verräterisches Herz mich nie hätte bleiben lassen. Niemals hätte es ihn dort rasten lassen in diesem unveränderlichen Zustand von Zufriedenheit, von gar nicht so schlecht, wenn es doch wusste, dass es irgendwo anders so viel Besseres, so viel mehr gab.
Er lässt sich fallen, seine Lungen noch immer luftlos, noch immer im Kampf mit sich selbst. Der Boden ist kalt unter ihm als er sich setzt, und der Regen zieht jegliche Wärme aus dem Rest seines Körpers, doch zum ersten Mal seit er zu rennen begonnen hat, kann, fühlt er auch wieder. Er fühlt die kleinen Steine unter seinen Händen und riecht den Regen, der die Welt wäscht. Er schmeckt das Salz seiner Tränen auf seiner Zunge und dieses kleine, verräterische Herz stolpert in seiner Brust vor Euphorie und wispert ihm zu: siehst du? Du hattest recht. Du hattest immer recht.
Er denkt an Alex hinter irgendeinem Schreibtisch in irgendeinem stickig-warmen Büro, und an die anderen, wo sie auch sind, und er lacht, atemlos, spürt das Stechen in seinen Seiten. Doch, er hatte recht. Das hier ist das Ganze allemal wert.
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