Geister

von Celina Farken

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Ich lebte immer knapp am Leben vorbei. Während ich am Ufer saß und Enten beobachtete, lebten sie ihr Leben. Die Mutter schwamm vor, die kleinen Entchen hinterher. Der Kopf einer Schildkröte blickte über das Wasser und sah mich an.

»Warum sitzt du da, anstatt mit uns zu schwimmen?«, schien sie mich fragen zu wollen, aber sie legte nur ihren Kopf schief. Ihre schwarzen Knopfaugen sahen mich durchdringend an.

»Weil ich immer knapp am Leben vorbei lebe«, flüsterte ich ihr zu.

Ich war ein Beobachter. Ein Beobachter des Lebens, das um mich herum stattfand. Das Leben, das mich zu umkreisen schien. Das Leben, das überall war. Nur nicht hier – ich hielt die Hand an meine Brust, gegen die mein Herz ruhig schlug. Nur nicht hier – ich tippte mir gegen die Stirn. Die Schildkröte tauchte ihren Kopf zurück ins Wasser. Sie hatte genug von mir und meinen Ausreden.

»Das Leben findet statt, nur nicht hier. Das Leben findet statt, woanders, nur nicht bei mir«, murmelte ich ihr noch zu, aber sie hörte mich nicht mehr. Kleine Bläschen blubberten auf der Wasseroberfläche.

Ich stand langsam auf, klopfte den Dreck von meiner Hose und spazierte der Sonne entgegen. Ihre Lichtstrahlen fielen immer knapp an mir vorbei. Ich lief im Zickzack durch sie hindurch. Sie wurden immer blasser. Die Sonne färbte sich Orange. Rosa Farbtupfer sahen aus wie Tücher aus Seide, die sich über den ganzen Himmel verteilten. Ich fühlte keine Aufregung, ich sah sie jeden Tag untergehen. Ich war nicht traurig, sie würde am nächsten Tag wieder auftauchen. Morgen. Wenn nicht morgen, dann eben einen anderen Tag. Mir fehlten die Enten und die Schildkröte nicht. Ich würde sie wiedersehen. Ich würde vielleicht nicht morgen wiederkommen. Aber an einem anderen Tag. Ganz bestimmt. Ein anderer Tag.

Eine Eule jauchzte neben meinem Ohr auf einem Ast. Ich blieb stehen und sah auf den Boden. Ein toter kleiner Vogel lag dort. Man könnte meinen, die Eule weinte um den kleinen Vogel. Aber man interpretiert zu viel in die Dinge. Ich ging weiter.

Der Himmel wurde langsam dunkler, er machte sich für seinen großen Auftritt bereit. Die Sterne waren die Tänzer, die ihn schmückten. Sie wärmten sich bereits auf. In der Mitte schien der Mond hell über den Park. Die Schildkröte hatte sich auf ihren Rücken gelegt und betrachtete ihn mit glänzenden Augen. Aber das könnte ich nicht mehr sehen. Ich hatte sie längst hinter mir gelassen. Die Schatten neben den Bäumen waren die Überbleibsel der Parkbesucher. Sie hatten einen Teil von sich hiergelassen. Ihre Geister trieben sich noch herum. Ich würde alles von mir mitnehmen, nichts würde ich hier lassen. Es gab sowieso nicht viel, das ich hatte.

Der Wind blies mir seine Melodie ins Gesicht. Ich bekam eine Gänsehaut. Der Himmel bedeckte sich mit einer dunklen Wolkendecke – der Vorhang fiel. Ich blieb stehen, legte meinen Kopf in den Nacken und schloss meine Augen. Ich stellte mir vor, alle Sterne wären vom Himmel gefallen und auf dem Grund des Sees in der Mitte des Parks gelandet. Ich würde mit ihnen herunterfallen. Anstatt eines lauten Plätscherns würde ich ohne einen Ton die Wasseroberfläche durchschneiden. Ich öffnete meine Augen, der Himmel sah aus, als würde es nie wieder Tag werden. Ich begann die Sonne zu vermissen. Ich vermisste die Enten, die kleine Schildkröte. Ich vermisste das Leben. Nicht das Leben, wie es vor dir war. Das Leben, wie es mit dir wäre. Was wäre, wenn die Sonne nie wieder aufgehen würde? Was wäre, wenn ich das Leben nie erleben würde? Was wäre, wenn ich es erleben würde? Was, wenn ich dich dafür bräuchte?

Ich strich über die eingeritzten Buchstaben auf der Bank, auf der ich dich das letzte Mal gesehen hatte. Das letzte Mal deine Hand auf meiner lag und ich spürte es – das Leben. Ich spürte es hier. Ich hielt meine Hand an meine Brust und mein Herz schlug. Nicht langsam. Schnell. Ich war kein Geist mehr, ich war hier.

Foto: www.pixabay.com

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