von Kim Schneider
Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche
Einsamkeit kommt oft und in vielen Situationen vor. Mit Einsamkeit jedoch verbindet man oft Menschen, die tatsächlich allein sind. Doch was ist, wenn ich euch sage, dass sich auch Menschen, die scheinbar alles haben, einsam fühlen können. Ihr glaubt mir nicht? Dann hört nun aufmerksam zu…
Sie ist das Herz und die Seele der Klasse. Diejenige, die die Klasse motiviert und zusammenhält. Sie strahlt eine solche Ruhe, Gelassenheit und Zufriedenheit aus, dass man gar keinen Gedanken daran verschwendet, dass etwas mit ihr nicht stimmen könnte. Doch wie geht das? Wie kann sich ein so fröhliches und beliebtes Mädchen einsam fühlen? Sie hat doch viele Freunde, einen Freund, der sie vergöttert und eine Familie, die für sie sorgt. Doch die traurige Wahrheit ist, dass das alles nur eine Fassade ist.
Die Familie, die für sie sorgt, ist eine Familie, die sich nicht für sie interessiert, die sie ignoriert und gar nicht gut behandelt. Das ist keine richtige Familie, das weiß sie. Doch sie möchte nicht allein sein.
Die vielen Freunde sind Freunde, die sich, sobald sie nicht da ist, über sie lustig machen bzw. über sie herziehen. Das sind keine richtigen Freunde, das weiß sie. Doch sie möchte nicht allein sein.
Der Freund, der sie vergöttert, ist ein Freund, der sie beleidigt, vielleicht sogar schlägt. Der mit anderen Mädchen um die Häuser zieht und sie gar nicht gut behandelt. Er ist nicht der Richtige, das weiß sie. Doch sie möchte nicht allein sein.
Sehen sie denn nicht, wie schlecht es ihr geht? Sehen sie nicht, wie sehr sie sich bemüht, alles richtig zu machen, indem sie sich zum Beispiel um ihre kleinen Geschwister kümmert, während die Eltern auf der Arbeit sind? Sehen sie nicht, wie sie sich selbst in Stich lässt und kaum bis gar nicht redet? Sehen sie denn nicht, wie unwohl sie sich fühlt?
Wenn sie mit ihren Freunden feiern geht, ist ihr einziger Gedanke, dass sie nach Hause möchte. Sie fühlt sich unwohl und fehl am Platz. Ihre Freunde rauben ihr die Kraft, denn auch um deren Probleme kümmert sie sich und ist immer für sie da. Doch sie bleibt, denn sie möchte nicht allein sein.
Jedes Mal beim Abendessen, redeten ihre Eltern nur von der Arbeit und fragten gar nicht, wie es in der Schule sei oder wie sie sich denn fühle. Es ist ihnen egal, sagt ihr Verstand. Doch da ist noch eine zweite Stimme, die sich ganz langsam aus dem tiefen schwarzen Loch bewegte, in dem sie feststeckte. Diese Stimme sagte ihr, dass die Eltern sie ignorieren, weil sie zu viel Stress auf der Arbeit haben und sie sich nicht immer um sie kümmern können. Es ist nur eine Phase, fügt die Stimme noch hinzu, denn als sie noch ein kleines Kind war, waren die Eltern immer sehr liebevoll und fürsorglich zu ihr. Es ist ihr Herz. Das Herz, das die Hoffnung nicht aufgibt. Das Herz, das für die Familie und Freunde brennt. Das Herz, das immer an das Gute im Menschen glaubt. Am liebsten würde sie alle Menschen in ihrem nahen Umfeld anschreien und ihnen sagen, wie sie sich wirklich fühlt. Doch sie bleibt ruhig, denn sie möchte nicht allein sein.
Auf ihre Bedürfnisse und Wünsche wird auch nicht geachtet, denn ihre Eltern haben schon ihr gesamtes Leben geplant. Doch was ist, wenn sie gar keine Ausbildung machen möchte? Was ist, wenn sie gar nicht ins Familiengeschäft einsteigen möchte? Was ist, wenn sie studieren möchte und diese gottverdammte Stadt verlassen möchte, die ihr so viel Leid gebracht hat. Was ist, wenn sie ein neues Leben beginnen möchte? Irgendwo weit weg, wo sie niemand kennt.
Doch dann kommen die Zweifel hoch. Schafft sie es? Wird sie allein zurechtkommen? Wie werden ihre Eltern darauf reagieren? Würden sie sie dann immer noch gleich behandeln oder würden sie ihr zum ersten Mal ihre Aufmerksamkeit schenken, die sie sich schon seit Jahren erhofft? Sie weiß es nicht.
An einem wunderschönen Sommertag machte sie sich mit ihrer Familie und ihren Freunden auf den Weg in den Wald, denn dort gab es eine Lichtung, wo sie den Tag zusammen verbringen wollten. Alle waren glücklich und bei guter Laune, als wäre es ein Paralleluniversum, wo es keine Probleme gibt. Sie machten es sich auf der Lichtung gemütlich und grillten, hörten Musik, lachten und unterhielten sich. Eine kleine Gruppe saß etwas abseits und unterhielt sich ganz aufgeregt. Doch sie dachte sich nichts dabei.
Nachdem alle etwas gegessen hatten, machten sie sich auf den Weg durch den Wald. Das Mädchen lief recht weit vorne und hörte stetiges Getuschel hinter ihr. Doch als sie sich umdrehte, lachten ihre besten Freunde und winkten ihr zu. Also ignorierte sie es und lief weiter.
Als sie das Ende des Waldes erreicht hatten, bemerkten sie, dass sie nicht an ihren Autos waren, um wieder zurückzufahren. Sie standen nun an einer Klippe, wo sich ein atemberaubendes Schauspiel bot. Das Wasser, das Wellen schlägt. Die Möwen, die durch die Lüfte segeln. Der Himmel, der sich rot und orange färbte. Ihre Mutter kam auf die Idee, ein bisschen näher an den Klippenrand zu gehen, um die Aussicht besser genießen zu können. Und so liefen sie los.
Ihre Mutter hatte recht. Die Aussicht war noch schöner, denn jetzt sah man auch, wie sich die Wellen auf die Klippe zubewegten, auf den Steinen aufschlug und sich beruhigte. Es war vor allem sehr windig dort vorne, da sie den Schutz der Bäume nicht mehr hatte. Sie blickte nach links und nach rechts, doch da war niemand. Also drehte sie sich um und da standen sie. Ihre Freunde und Familie. Keiner hatte sich auch nur einen Meter bewegt. Sie standen da, lächelten und winkten ihr zu. Sie hörte ihre Stimmen, die sagten, dass sie das großartig macht, wie toll sie doch ist und wie dankbar sie seien, dass sie sich immer um einen kümmerte. Dass sie ihre eigenen Probleme beiseitelegt, damit es anderen gut geht. Dass sie immer stets einen Rat im petto hat, der den anderen weiterhilft.
Der Wind wurde stärker und stärker. Das Mädchen verlor den Halt und fiel. Die Menschen, die sie liebte, standen da lächelnd und winkend. Wieso tat denn niemand etwas? Doch plötzlich spürte sie eine Hand um ihre, die sie festhielt. Eine Hand, die sie wieder hoch auf den Boden zog. Diese Hand gehörte einem Mädchen mit feuerrotem Haar und ohne Gesicht. Zumindest konnte man ihr Gesicht nicht erkennen. Ihre Familie und Freunde waren verschwunden.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen aufgelöst. „Ich bin dein Helfer in der Not“, antwortete das Mädchen ohne Gesicht, „Warum warst du so nah an der Klippe?“ „Ich weiß es nicht. Wo sind meine Freunde und meine Familie?“, antwortete das Mädchen verwirrt. Was ist hier nur los? „Willst du sie wirklich hier haben?“, fragte ihre Retterin bloß. Darauf wusste sie keine Antwort. „Bist du glücklich momentan?“, fragte sie weiter. „Ja schon“, antwortete sie. Das Mädchen zog nur eine Augenbraue hoch.
Die beiden Mädchen unterhielten sich noch für weitere Stunden. Über ihre Freunde, die Familie, die Schule. Doch das Mädchen ohne Gesicht hatte ein großes Interesse an ihren Träumen, Wünschen und Zielen. „Du weißt schon, dass du all das nicht erreichen wirst, wenn du solche Menschen um dich herum hast. Menschen, die dich heruntermachen, dich nicht wertschätzen und nicht unterstützen“, versicherte das Mädchen mit dem feuerroten Haar und stand auf. Sie reichte ihr die Hand, die sie dankend annahm und gemeinsam gingen sie nach Hause.
– Drei Jahre später –
Das Mädchen hatte nach der Begegnung mit dem Mädchen mit dem feuerroten Haar die Stadt verlassen. Sie zog nach Vancouver, wo sie ein neues Leben startete. Sie studierte Theaterwissenschaften und arbeitete bereits an ihrem ersten Stück. Am Tag der Aufführung, kurz bevor der Vorhang fiel, blickte sie in den Spiegel. Dort sah sie eine junge Frau mit feuerrotem Haar und blauen Augen. Sie atmete tief durch, lächelte und ging auf die Bühne.
Eins hatte das Mädchen gelernt. Wir haben alle ein bisschen „Ich will die Welt retten“ in uns. Aber es ist okay, wenn du erst mal nur einen Menschen rettest und es ist in Ordnung, wenn dieser Mensch du selbst bist.
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