Herbstwinde

von Annie

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Der Sommer war vorbei.

Zwar schien noch die Sonne, doch längst wärmte sie nicht mehr. Fast wirkte es so, als hinge sie nur noch aus Gründen der Ästhetik und Motivation an dem trostlos grauen Himmel. Sie konnte den Herbst, der sich nun schon seit längerem ankündigte, einem Raubtier ähnlich, langsam, aber zielstrebig seiner Beute entgegenschleichend, nicht mehr verdrängen.

Der kalte Wind, der sie beim Verlassen des Schulgebäudes empfing, ließ sie frösteln. Er drang durch ihre warme Jacke und ihren dicken Schal, den sie nicht nur zum Schutze vor den Witterungen um Hals und Oberkörper geschlungen hatte und jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Sie fühlte sich nicht wohl an diesem Ort. Sie war nicht gerne hier, sie wünschte sich, sie müsste nicht hierhin. Doch sie wusste, sie musste, sie wollte es doch auch, sie wusste, warum sie hier war und was es für sie bedeuten würde, endlich das zu erreichen, was sie hier erreichen wollte.

Doch der kalte Wind, der sie umgab, verstärkte das ungute Gefühl in ihrem Herzen noch mehr. Er kam nicht nur von oben aus der Luft und von den kahlen Bäumen zu ihrer Rechten, sondern auch aus Richtung des gegenüberliegenden Schulgebäudes, auf welches sie nun zusteuerte, zusteuern musste.

Sie hatte sie schon durch die Tür des anderen Gebäudes gesehen und hätte sich am liebsten sogleich wieder umgedreht. Im Gegensatz zu ihr waren sie noch inadäquat sommerlich gekleidet. Sie mussten nicht frieren, hier an diesem Ort. Sie waren auch nicht alleine, nicht so wie sie, schon alleine deswegen waren sie vor kalten Herbstwinden geschützt.

Einer von ihnen hatte sie von Weiten schon gesehen, sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut brennen, noch bevor sie seine Mimik überhaupt richtig erkennen konnte.

Das ungute Gefühl in ihr verstärkte sich, während sie weiter auf das Schulgebäude zuging. Der Weg kam ihr mit einem Mal doppelt so lang vor. Sie kannte diese Situationen, sie hatte mit der Zeit ihre eigenen Methoden entwickelt, um mit ihnen umzugehen.

Sie atmete tief durch und zwang sich, sich einzig auf ihre Schritte zu konzentrieren, nur auf sie und auf nichts anderes.

Und doch registrierte sie, wie sein Mund sich bewegte, wie er etwas zu dem Jungen sagte, der direkt vor ihm und mit dem Rücken zu ihr stand.

Auch dieser wandte sich jetzt in ihre Richtung und musterte sie, eine bizarre Mischung aus Sensationslust, Verachtung und Überheblichkeit in seinem Blick.

Sie war nicht so wie sie. Sie wusste es und die anderen wussten es auch und sie ließen es sie bei jeder Gelegenheit spüren. Sie war stiller als sie, viel stiller und sie hielt sich mehr zurück. Sie hatte andere Interessen als sie, andere Fähigkeiten. Sie sah anders aus. Sie war ein Mädchen. Die anderen nicht.

Sie hatte sich an ihre Rolle als einzige Frau gewöhnt, gewöhnen müssen. Die anderen nicht. Sie wollten es nicht.

Quoten-Frau war einer ihrer Spitznamen für sie. Prinzessin. Aufmerksamkeitssüchtig. Fehl am Platz. Überflüssig.

Sie konnten den Gedanken nicht ertragen, dass sie hier war. Hier, auf einer technischen Schule. Dass sie sich genau wie sie für Technik interessierte. Dass auch sie gute Noten schrieb, in technischen Fächern, obwohl sie doch ein Mädchen war.

Die anderen beobachteten sie, als sie an ihnen vorbeilief, auf die große gläserne Eingangstür ihres Gebäudes hinzu. In der Glasscheibe spiegelten sich ihre Gesichter, sie sah ihre großen dunklen Augen, in denen sich eine Mischung aus Nervosität und Wut erahnen ließ. Sie war wütend, es ärgerte sie, die Blicke, das Getuschel, diese Unverfrorenheit. Und sie ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte sich angewöhnt, in solchen Situationen nicht zu reagieren, es einfach zu ignorieren, als würde es nichts mit ihr machen. Dabei wünschte sie sich so sehr, nur einmal etwas zu sagen.

Sie sah, dass sie sie immer noch beobachteten.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, sich zu ihnen umzudrehen und ihnen die Meinung zu sagen. Sie wollte sie fragen, ob etwas nicht in Ordnung wäre. Ob sie etwas an sich hatte, vielleicht grüne Haare, einen Zylinder auf dem Kopf, irgendetwas, das ihnen das Recht gab, sie so unverschämt anzustarren und so schamlos offensichtlich über sie zu sprechen. Sie wollte ihnen sagen, was sie von einem solchen Verhalten hielt.

Tausende Worte, Satzfetzen brannten hinter ihrer Stirn, auf ihrer Zunge, schrien es aus ihrem Körper. Sie musste nur ihren Mund öffnen.

Ihre Hand ruhte auf der Türklinke. Durch die Glasscheibe starrten ihre Gesichter sie an. Sie sahen ihr Zögern. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stehen geblieben.

Dann lächelte sie und drückte die Türklinke hinunter. Sie musste nichts sagen. Es gab keine wirkungsvollere Antwort als den Gang ins Schulgebäude. In das Schulgebäude, welches sie ihrer Meinung nach nicht betreten sollte. Weil sie eine Frau war und nicht hier sein sollte. Und welches sie nun doch betrat. Sie war immer noch hier, egal, was sie zu ihr sagten, was sie ihr an den Kopf warfen, wie sie sie nannten, egal, wie sehr sie starrten.

Die Gesichter in der Glasscheibe lösten sich auf. Mit einem sanften, aber nachdrücklichen Geräusch fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Die Kälte der Herbstwinde spürte sie nicht mehr.

Foto: www.pixabay.com

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