Ein Mädchen, das ich niemals war

von Ayleen Bodenmüller

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Als ich dich zum ersten Mal getroffen habe, das weiß ich noch ganz genau, da regnete es in Strömen. Wir waren beide bei diesem Schulprojekt angemeldet, das an jenem besonderen Tag stattfinden sollte, jedoch schlussendlich wetterbedingt abgesagt werden musste. Zu spät für uns: Bis die Nachricht dich und mich erreichte, standen wir längst klatschnass am eigentlichen Treffpunkt. So verloren, wie wir dort warteten, hast du mich angesprochen. Vom ersten Moment an fand ich dich sehr sympathisch – dein gewisses Etwas, das einem direkt ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, lies die Zeit, die wir dann eben gemeinsam mit Auf-den-nächsten-Bus-warten verbrachten, wie im Fluge vergehen.

Aber auch an meine Verunsicherung erinnere ich mich. Du warst so offen, so aufgeschlossen, hast erzählt und erzählt. Deine neugierigen Blicke und meine innere Versagensangst, denn ich wollte auf keinen Fall einen schlechten Eindruck machen, brachten mich irgendwie dazu, deinem Beispiel zu folgen. Auch wenn es sich falsch anfühlte, normalerweise bin ich ja gar nicht so. Trotzdem fing ich mit der Zeit an, genauso zu erzählen und zu erzählen. Am Ende des Tages war ich stolz auf mich, ich hatte es geschafft: Gerade als mein Bus anfuhr, hast du nach meiner Handynummer gefragt. Kurzzeitig war ich hin- und hergerissen: Wenn ich jetzt nach Hause wollte, müsste ich dich genau in diesem Moment sitzen lassen – Bus oder du? Ich habe mich für dich und deine Handynummer entschieden. Glücklicherweise war davor nicht von Wohnorten und Busfahrplänen die Rede gewesen. Daher hatte ich schlicht noch eine Weile gewartet, um, selbstverständlich ohne deine Kenntnis über meine Entscheidung, mehr Zeit mit dir verbringen zu können.

Bereits an diesem Abend ruhten meine Gedanken nur bei dir, und auch, wenn ich es mir da noch nicht eingestanden habe, war ich doch schon vom ersten Augenblick an in dich verliebt. In dich, deine unverwechselbare Art, die Wirkung, die du auf mich hast. Nachts träumte ich sehnsüchtig von dir und tagsüber hoffte ich dauernd, dir zu begegnen.

Schon bald sollten sich dieser Wunsch erfüllen – wir trafen uns wieder. Es war mein erstes richtiges Date. Noch nie hatte ich mir im Vorfeld über irgendetwas so viele Gedanken gemacht wie über dieses Wiedersehen: Ich überlegte Ewigkeiten, was ich am besten tragen sollte, dachte schon an alle möglichen Gesprächsthemen und rief in den letzten Stunden vor dem Treffen mindestens zehnmal panisch bei meiner besten Freundin an. Die war die Ruhe in Person:

„Sei einfach du selbst“, riet sie mir. Betonung auf „einfach“. Ich habe es trotzdem nicht geschafft. Wie hätte ich auch können, schließlich hatte unsere Beziehung schon damals im Regen falsch begonnen – was, wenn du deine Meinung zu mir nun wieder ändern würdest? Also tat ich dasselbe wie damals im Regen: Ich spielte das extrovertierte, vertrauensvolle Mädchen, das doch eigentlich unendlich weit von meinem natürlichen Charakter entfernt lag. Aber zwischen Vanille-Eis und Sonnenschirmen verdrängte ich das voll und ganz.

„Es ist ja nur für die Anfangszeit, solange ich dich kennenlerne. Später, später wird das alles anders.“

Wurde es nicht. Denn genauso dachte ich, als wir uns dann zum dritten Mal sahen, beim vierten Mal erst recht, und obwohl ich nach diesem Tag so erschöpft wie noch nie ins Bett fiel, wäre mir nicht im Traum der Gedanke gekommen, beim fünften Mal anders zu handeln. Immer wieder aufs Neue war da meine Angst, deine Gefühle für mich zu verlieren. Deine Liebe wurde mir wichtiger als mein eigenes Glück, meine eigene Persönlichkeit.

Ich wünschte, deine Ausstrahlung hätte mich nicht dazu gebracht, mich selbst zu vergessen, auch wenn du selbstverständlich weder Schuld noch Verantwortung für irgendetwas davon trägst. Wäre ich vielleicht doch in diesen Bus gestiegen, vielleicht wäre alles anders gekommen. Diesen Weg werde ich aber niemals mehr einschlagen können. Selbst, wenn es vor einigen Monaten noch die beste Entscheidung meines Lebens gewesen war, bei dir zu bleiben, hat sich meine Sicht darauf bis heute sehr verändert. Es strengt mich furchtbar an, jemand zu sein, der ich nicht bin. Ich kann nicht mehr. Deswegen habe ich aufgehört. Und jetzt sitzt du neben mir, deine Augen leicht geweitet, dein Blick besorgt.

„Warum bist du so ruhig? So kenne ich dich ja gar nicht“, meinst du zu mir.

„Eben“, erwidere ich zögerlich.

„Das ist genau das Problem.“

Und während ich verzweifelt in deine verständnislose Miene sehe, zerbricht das „Wir“ wieder in ein „du und ich“.

Foto: www.pixabay.com

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