Raus an die frische Luft

von Marlene Engelmann

Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche

Durch den Sonnenschein, der vom Garten mit seinen farbenfrohen Blumen geschmückt war, sah er feine Staubflocken tanzen. Er stand dort, auf der alten Eichenholztreppe, die bei jeder kleinsten Bewegung knarrte und trug sein knielanges weißes Nachthemd, welches diese schönen, zarten Blüten eingestickt hatte. Es war noch von seiner Großmutter, die es immer getragen hatte, als er bei ihr übernachtete und ihn abends noch die kleinen Schokoladenkonfekte essen ließ. Er hörte seine Eltern in der Küche murmeln, wenn sie alleine waren, sprachen sie noch immer italienisch miteinander. Er ging die Stufen zur Küche hinunter. Es roch nach karamellisierten Äpfeln und Vanille, was selten war, da Vanille teuer war. Seine Mutter küsste ihn auf den Kopf, als sie ihn bemerkte. Sein Vater saß auf der Eckbank und knetete Teig.

„Morgen Cortez“, sagte er.

Auf dem Esstisch stand ein Krug gefüllt mit Kirschnektar, von dem er sich etwas in ein Glas füllte. Er war bis zum Nachmittag auf seinem Zimmer geblieben.

Es war mitten in der Nacht, er konnte nicht schlafen. Die Uhr, die auf seinem Nachttisch stand, zeigte 4:42 Uhr. 
Er musste raus. Raus an die frische Luft. 

Seine Füße waren nackt und der Kies stach in seine Fußsohlen, als er durch die Einfahrt auf die Straße rannte. Straße konnte man den aus Sand bestehenden, pistenartigen Weg nicht nennen, aber wenigstens war in einer nicht all zu weiten Entfernung eine Tankstelle, die rund um die Uhr offen war. Irgendetwas sagte ihm, dass er zur Tankstelle gehen sollte. Zum Glück hatte er sich, bevor er rausging, eine Hose und ein Hemd übergezogen, es wäre unangenehm dem Tankwart Tony in einem geblümten Nachthemd entgegenzutreten. Die Tankstelle war, bis auf einen alten Oldtimer, der an einer Zapfsäule stand, leer. An ihn gelehnt stand ein Junge, der vielleicht ein bis zwei Jahre älter als er war. Es wirkte so, als würde er auf jemanden warten. Der Junge schaute ihn an und kam auf ihn zu. Jetzt erkannte er ihn. Er hatte ihn ein paar Mal am See gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Cortez sagte nichts.

„Ich kenne dich“, sagte der Junge. Cortez nickte.

„Wieso bist du so spät noch draußen?“

„Könnte ich dich auch fragen“, erwiderte Cortez. Der Junge grinste.

„Soll ich dich ein Stück mitnehmen?“

„Wieso nicht…“ 

Das Auto war eng und roch nach festgesetztem Zigarettenrauch. Der Junge setze sich ans Steuer und der Wagen fuhr knatternd los. Sie beide wussten, dass Cortez nicht zu Hause abgesetzt werden wollte. Sie fuhren nun schon eine Weile. Die Landschaft wurde hügeliger. Das Autoradio dudelte vor sich hin. Sie sprachen nicht. Cortez beobachtete ihn im Mondlicht. Er hatte rötliche, glatte Haare, die zu einem Mittelscheitel gekämmt waren, was ein guter Kontrast zu Cortez’ pechschwarzen, wilden Locken war. Seine Nase hatte einen leichten Hügel und auf seinem ganzen Gesicht tanzten Sommersprossen. Er war gut gekleidet, trug eine Bundfaltenhose und einen Strickpullover, unter dem ein weißes Hemd hervorlugte. Cortez wusste noch immer nicht, wie er hieß. 

„Wir sind fast da.“ Er schien zu merken, dass Cortez ihn anschaute.

Sie stiegen aus. Er schaute sich um, und sah, dass sie auf einem grasbedeckten Hügel standen. Sie konnten das ganze Tal sehen und wie in manchen Häusern noch die Lichter brannten. Es war wundervoll.

„Das“, sagte er, „ist traumhaft.“

Er setzte sich in das feuchte Gras. Man sah, dass es bald hell werden würde. Der Junge setzte sich neben ihn.

„Ich war hier früher oft mit meiner Mutter, bis sie mich und meinen Vater verließ, um die Welt zu bereisen. Sie kam nie zurück. Wir saßen hier stundenlang, lagen im nassen Gras und zählten die Sterne. Ich vermisse sie.“ 

Cortez wusste, wie es ihm ging. Aber er antwortete nicht. Er wollte ihm einfach nur zuhören. 

„Wir waren hier bis die Sonne aufging und redeten über die wunderschönen Orte auf der Welt, die wir noch entdecken wollten. Über andere Sprachen, Kulturen und Bräuche. Seit meine Mutter weg ist, redet mein Vater nicht mehr viel.“ 

Cortez schaute ihn an. Der Junge blickte auf den Boden. Man sah, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen. Plötzlich spürte Cortez das Sonnenlicht an seiner Nasenspitze kitzeln. Die Sonne erhob sich majestätisch über den Bergen, wie als wollte sie ihnen zeigen, wie schön sie war. Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, wie der Junge lächelte. Cortez rannte zum Auto und drehte das Radio laut. Er fing an zu tanzen. Der Junge genauso. Sie ließen sich treiben von den Takten der Musik, und genossen die aufgehende Sonne, die ihre ganzen Körper aufwärmte. Irgendwann, als ein langsames Lied anfing zu spielen, ließen sie sich ins Gras fallen. Der Junge fing an zu lachen. Cortez konnte nicht anders und fing auch an. Sie konnten nicht aufhören. Als ihr Bauch schon wehtat, zog der Junge ihn hoch.

„Cortez“, sagte er leise, „du musst nach Hause“. 

Es war kurz vor sieben, als er vor dem alten Steinhaus stand.

„Auf Wiedersehen, Cortez“, sagte der Junge und lächelte traurig. Schon war der Oldtimer weggefahren. 

Als er auf seinem Zimmer war, warf er sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Es war still im Haus, er hörte draußen einen Hund bellen und ein paar Vögel zwitscherten. Er strich mit seinen Fingerspitzen über die filigranen Eingravierungen seines Holzbettes. 

Cortez fühlte sich gut. Es war ein besonderes Gefühl, was seinen ganzen Körper in einen wohlig warmen Zustand versetze.

Foto: www.pixabay.com

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