von Sternenpoetin / II. Platz /
Literaturwettbewerb „Leben erleben“ 2021 für Jugendliche
„Du bist es“, sagte Tom leise. Dan wandte seinen Blick nur widerwillig von den Sternen ab, musste es jedoch, als er Tom fragend ansehen wollte. Die beiden saßen am Rande des Maisfelds, durch das sie sich schon oft spielerisch gejagt hatten. Meist waren es laue Sommerabende gewesen, die sie hier verbracht hatten. Nur die Jungs, wie in einem Märchen. Zwischen all den Kommentaren und abwertenden Blicken wirkte dieser Ort tatsächlich wie ein Märchen. Eine andere Welt, in die man einfach abtauchen konnte, wann immer einem danach war. Von niemandem gesehen, von niemandem gehasst. Für etwas, was doch jeder gern erleben würde: Liebe.
„Mein Leben“, murmelte Tom, als er Dans Blick bemerkte.
„Dein Leben?“
„Ja. Ohne dich würde was fehlen. Ich wäre nicht mal motiviert, morgens aufzustehen. Du bist mein Grund für alles, mein Glück. Du hast mir beigebracht, nicht nur zu existieren…“
„…sondern zu leben“, ergänzte Dan mit einem unweigerlich in sein Gesicht tretendes Lächeln. Tom wich seinem Blick in diesem Moment aus, als er bemerkte, wie Hitze in seine Wangen stieg. Diese verlegene Art, die Tom nur in Dans Gegenwart zeigte, liebte dieser. Vorsichtig beugte er sich etwas zur Seite und küsste Tom sanft auf die rote Wange. Ein verlegenes Lachen.
„Ich will leben, Tom. Ich will alles hinter mir lassen“, eindringlich sah Dan Tom so lange von der Seite an, bis dieser seinen Blick erwiderte. Dass die beiden sich damals getroffen hatten, war Schicksal gewesen. Etwas, woran die meisten Menschen nicht glauben. Doch nachdem Tom seinen besten Freund verloren hatte und Dan in seiner frühen Jugend misshandelt worden war, hatte der Zufall sie auf dem Pausenhof zusammengeführt. Tom war damals in der neunten Klasse gewesen, Dan in der siebten. Im jeweils anderen fanden sie eine Medizin gegen ihren Schmerz. Und so war es bis zu diesem Tag geblieben, wo sie achtzehn und zwanzig waren, und nachts zu zweit auf dem bereits gemähten Maisfeld saßen. Es gab wahrlich gemütlichere und sicherlich auch coolere Plätze für zwei junge Männer. Doch für Tom war das höchste Gut des Lebens immer Liebe gewesen. Und für Dan Freiheit. An diesem Fleck hatte Tom die Liebe seines Lebens ganz für sich und Dan hatte die Sterne. Die unendlichen, dunklen Weiten der mysteriösen Nacht.
„Ich weiß. Das will ich auch. Denkst du, wir schaffen das?“, Tom sah Dan etwas unsicher an, doch dieser antwortete mit einem so selbstsicheren Lächeln, dass er direkt danach das Thema wechseln konnte, ohne noch weiter zu antworten.
„Der Mond ruft uns, Tom! Hörst du das?“, mit funkelnden Augen huschte Dans Blick über den Nachthimmel zu seinem ältesten Freund, den er sich bereits mit sechzehn ohne Einverständnis der Eltern hatte auf die linke Brust tätowieren lassen. Dort, wo er hingehörte: Nah am Herzen.
„Ja“, flüsterte Tom, dessen Blick Dans nicht hatte folgen können, weil er so fest an dessen Gesicht haftete. Dans lange, dunkle Wimpern hoben sich ganz leicht ab vor dem düsteren Bauernhaus bei Nacht, welches am Ende des Feldes stand. Vom Mondlicht angestrahlt bekamen seine hellblonden Haare immer einen leicht silbernen Schimmer. Nachts wirkte er zwar noch blasser als tagsüber, doch in Toms Augen hätte er nicht schöner sein können.
„Weißt du noch? Das letzte Mal, als wir hier waren, hast du mich gefragt, was der Sinn des Lebens ist“, begann Dan.
„Ja. Dumm von mir, dass ich nicht gleich geantwortet habe. Ich weiß längst, dass du das bist“, sagte Tom sofort.
„Mein Papa sagt, es ist der Sinn des Lebens, bis zu seinem Tod all seine Ziele erreicht zu haben. Aber… setzt das nicht wahnsinnig unter Druck? Ich persönlich kenne meine Ziele nicht mal“, nachdenklich wanderte Dans Blick von einem Stern zum nächsten, als würde er kontrollieren, ob auch jeder zuverlässig an seinem Platz aufgetaucht war. Anhand seines unterdrückten Schmunzelns konnte Tom erkennen, dass Dan schon einen Gedanken weiter gedacht hatte und so wartete er geduldig und aufmerksam darauf, dass Dan diesen Gedanken aussprechen würde.
„Ist es nicht der Sinn des Lebens, das Leben nach eigenem Sinn zu leben?“ Nun musste Tom lachen. Welch typische Dan-Logik! Dieser fuhr sogleich fort, als er Toms Lachen hörte.
„Überleg doch mal! Wir sind geboren, um zu erleben! Die Tage mit den meisten Erlebnissen vergehen am schnellsten! Und die Tage, die man in vollen Zügen erlebt, bleiben am besten in Erinnerung! Dabei ist das Erlebnis an sich völlig egal, nur unsere Empfindung zählt. Unsere Sicht auf das Leben. Optimismus, nicht? Erleben, das ist die Steigerung von Existieren, Tom. Und es ist in unserer Hand, jeden einzelnen Tag. Unsere pessimistische Gesellschaft ist doch zu bemitleiden! Sie wissen zwischen Krawatte und Kontostand doch gar nicht, wie es ist, wirklich frei zu sein! Nichts zu haben außer der Liebe! Und dem Leben! Und das ist doch das größte Geschenk, oder nicht?“ Tom ließ sich einige Sekunden Zeit, Dans Worte sacken zu lassen. Für jene euphorischen Ausbrüche voller Inspiration und durch wilde Gedankensprünge hindurch liebte Tom Dan. Er liebte ihn für alles. Doch diese Art, das Leben zu betrachten, war es gewesen, in die er sich damals unsterblich verliebt hatte. In den Jungen, der sich auch nach allem nie selbst bemitleidet hatte.
„Ja. Lass uns leben“, sagte Tom entschlossen und traf in diesem Moment Dans Blick, in welchem Lust aufflammte. Lust, zu erleben, was auch immer das Leben alles noch zu bieten hatte.
Foto: www.pixabay.com