Wenn man als einziger Mensch auf der Erde lebt, wie kann man mit dem Überleben in vollkommener Isolation umgehen? Was ist unsere Beziehung zu Tieren und der Mutter Erde? Wer bin ich? Mit diesen Ideen brachte Marlen Haushofer 1963 das Buch „Die Wand“ zu Papier. Die österreichische Autorin wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren und starb 1970 in Wien an Knochenkrebs.
Damals reüssierte die Autorin nicht mit diesem Werk. Im Nachhinein ist der Roman ein visionäres Kunstwerk. Das Thema über die Einsamkeit der modernen Menschen und die Identitätskrise ist für mich durchaus aktuell. Insofern müssen wir uns heutzutage immer noch mit diesen Fragen auseinandersetzen.
Eine Frau will mit ihrer Cousine Luise und deren Mann Hugo drei Tage in einem Jagdhaus in den Bergen verbringen. Am Abend der Ankunft bricht das Ehepaar noch einmal ins nächstgelegene Dorf auf und kehrt nicht mehr zurück, während die Protagonistin mit dem Jagdhund Luchs zurückbleibt. Am nächsten Morgen stößt die Frau auf eine unsichtbare Wand, hinter der Totenstarre herrscht. Sie ist durch diese Wand von dem Rest der Welt abgeschnitten und findet sich in einer gigantischen Gebirgslandschaft eingesperrt. Sie sorgt für ihre Haustiere und fängt an, Kartoffeln und Bohnen anzubauen und wilde Tiere zu töten, um überleben zu können. Auf der Rückseite alter Kalender und auf vergilbtem Geschäftspapier schreibt sie eine Art Tagebuch, weil sie nicht den Verstand verlieren will. In dieser Ur-Situation entdeckt sie nicht nur die Verbundenheit mit und gegenseitige Abhängigkeit von Tieren und der Natur, sondern auch ihre Identität und innere Freiheit.
In der Geschichte erscheinen wenige Menschen. Das Paar jenseits der Wand ist vermutlich tot. Der Roman kreist vom Anfang bis zum Ende um die Hauptfigur, die „Ich“ Erzählerin, die in ihren späten Vierzigern stehende namenlose Protagonistin. In diesem auf das Nötigste reduzierten Leben reflektiert sie dabei immer intensiver ihre bisherige Existenz und spürt eine Befriedigung im eigenen Dasein. Weit entfernt von dem alten rasanten Leben, den Fesseln der Familie und der Eintönigkeit des Alltages wird das „Ich“ erweckt. „Es gibt keine vernünftigere Regung als Liebe. Sie macht dem Liebenden und dem Geliebten das Leben erträglicher“, so sagt die Protagonistin. Trotz der Isolation und Ausweglosigkeit kämpft sie mit Liebe zu ihren Tieren ums Überleben und erlernt neue Lebensfähigkeiten. In diesem Roman ist der Hund Luchs erwähnenswert. Als ihr bedeutsamer Partner ist Luchs treu und verlangt nach Menschenliebe. Im Gegensatz zur frostigen Kälte des Menschen stellt Luchs jederzeit die Freude und die Wärme zur Verfügung, bis ein Mensch ihn tötet. Die Protagonistin versteht nicht, warum dieser Mann so grausam ist, dass er ihre Tiere tötet.
Ich kann das Buch jedem weiterempfehlen, weil die Autorin mich in ihren Bann zieht. In ihrer apokalyptischen, melancholischen und ruhigen Imagination offenbart sie bildhaft den Einklang mit Tieren und der Natur. In ihren Worten werde ich von der Einsamkeit der Berge, der Natur und des Waldes mitgenommen. Ich vergleiche darüber hinaus das Buch mit Beethovens 5. Sinfonie im Sinne eins Schicksalsdramas, einer Erzählung von Niederlage und Triumph und von der ewigen Frage, „wer bin ich?“. Aus meiner Sicht ist das Werk ein großer Wurf, der mich überrascht und nachdenklich macht. Wenn man nach einem unstillbaren tiefen Sinn im Leben sucht oder am Leben zweifelt, wird das Buch einen trösten und in einem die Lebenslust anzünden. Zudem spornen mich die Leerstellen im Buch dazu an, zu fantasieren wie in einem Science-Fiction-Roman, woher die Wand kommt, ob aufgrund einer Atombombe, ob die Menschen jenseits der Wand tot sind, ob die Frau eines Tages gerettet wird.
Das Ende des Romans bleibt offen. Jeder Leser kann seine Fantasie beflügeln, um sich vorzustellen, wie es mit der Frau weiter geht oder wie wir an ihrer Stelle weiter machen könnten. Daher müssen wir das Buch lesen, um den Duft des Lebens schätzen zu können.