Ich fahre jede Woche zweimal nach Budapest hin und zurück, um an meinen Seminaren teilzunehmen. Als ich die Uni Aufnahme erwarb, wusste ich, dass ich nicht in Vollzeit studieren kann. Für meine alleinstehende Mutter wäre es finanziell zu belastbar. Mich stört es aber nicht, ich kann Arbeit und Studium gut vereinbaren. Jeden Freitag stehe ich um fünf auf. Ich mag nicht früh aufstehen und von der Müdigkeit fühle ich mich meistens schlecht. Ich übergebe mich oft schon an der Bushaltestelle. Meine Mama steht besorgt neben mir. Sie begleitet mich immer mit dem Bus bis zum Bahnhof. Während ich mit Übelkeit kämpfe, hält sie meine Reisetasche. In der Stofftasche liegen drei Sandwiches, eine Banane, zwei Flaschen Mineralwasser und eine Packung Guten Morgen Kekse. Schokokekse, keine Früchtekekse. Jedes einzelne Mal sind dieselben Sachen in der Tasche, ergänzt mit dem aktuellen Lehrmaterial.
Nachdem ich in den Zug eingestiegen bin, schlafe ich meistens sofort ein. Meine Freundin stößt drei Stationen später zu mir und weckt mich. Sie erzählte mir einmal, dass sie sich auch übergeben musste. In die Badewanne, während sie sich die Haare wusch. Das war aber nicht aus Müdigkeit, sondern wegen ihrer Prüfungsangst. Sie macht sich immer viel Stress, wenn sie Prüfung hat und lernt die ganze Fahrt durch, während ich schlafe. An der Uni trennen wir uns normalerweise, meine Freundin besucht ein anderes Fach. Ich studiere zwei Fachrichtungen, Raumentwicklung und Eventorganisation.
Die letzte interessiert mich nicht wirklich. Der Professor redet nicht viel über Veranstaltungen, er erzählt eher spontan darüber, was ihm gerade einfällt. Ich finde ihn trotzdem sympathisch. Er hat einen schlanken Körper, lockige Haare und kommt nie ohne Schal in den Raum. Er ist eher eine Boheme als ein ernster Professor. Vielleicht deshalb redet er immer über das, worauf er Lust hat. Er erzählt einmal, dass Napoleon in dem Lehrbuch seiner zwölfjährigen Tochter als glorioser Feldherr beschrieben werde. Er flippt aus: „Wie kann man so etwas schreiben? Napoleon war viel schlimmer als Hitler… Viel schlimmer!“, betont er nochmal. Er seufzt und fügt hinzu: „Und wisst ihr, warum sie das trotzdem schreiben? Weil die Zeit alles verklärt“. Ich werde diesen Satz nie vergessen und jedes Mal, wenn ich jemandem, der es nicht verdient, verzeihen werde, werde ich wissen, warum: weil die Zeit alles verklärt.
Ich mag die Fakultät auch, weil eine nette Schulkameradin neben mir sitzt. Sie hat kurze, braune Haare, braune Augen und lächelt immer, als ob man das Lachen auf ihr Gesicht gemalt hätte. Am Ende des zweiten Semesters verliebt sie sich in einen jungen Professor. Der Professor liebt sie auch und kurz darauf ziehen sie zusammen. Ich schlafe manchmal bei ihnen. Auf das Bett legen sie immer zwei Kopfkissen, die nach Blumen riechen und eine extra Bettdecke, falls mir kalt wird. Vom Bett aus sehe ich den Mond, der durch das Dachfenster hereinscheint. In der Früh trinken wir Vanillekaffee und reden über alltäglichen Sachen. Einmal erzählt sie mir, dass sie im Sommer am Comer See Urlaub machen werden. Sie behauptet, das sei in Italien. In Italien?, wiederhole ich den Satz erstaunt. Was für ein schönes Leben sie hat, denke ich. Sie fährt auf Urlaub, nach Italien. Ich war bisher nur zweimal im Ausland, als ich klein war und habe kaum Erinnerungen daran. In diesem Moment verspreche ich mir, ich werde einmal zum Comer See fahren.
Die andere Fachrichtung interessiert mich viel mehr. Wir lernen, wie man ein Dorf oder eine Siedlung entwickeln und die Lebensumstände der Einwohner verbessern kann. Das Thema inspiriert mich so sehr, dass ich meine Diplomarbeit darüber schreibe. Ich arbeite drei Monate lang daran, danach drucke ich alle 70 Seiten aus und lasse sie binden. Als ich am Ende des vierten Semesters vor der Staatsprüfungskommission sitze, teilt meine Professorin mir mit, dass sie meine Diplomarbeit sehr interessant fand, und zweimal las. „Es war, als ob man einen Film schauen würde“, sagt sie. An diesem Tag entscheide ich mich, dass ich einmal Autorin werde.
Nach den Unterricht treffen wir uns üblicherweise mit meiner Freundin wieder und fahren zurück nach Hause. Immer mit dem Bus. Meine Freundin lässt mir den Sitzplatz am Fenster. Die Fahrt ist langsam und buckelig. Meine Freundin trägt meistens tiefgeschnittene Blusen, so sehe ich, wie ihr kleiner Busen während der hügeligen Fahrt hinauf und herunter hüpft. Der Bus macht auf halbem Wege eine Pause. Wir besuchen immer dieselbe öffentliche Toilette mit meiner Freundin. Die alte Dame, die jeden Tag am Eingang sitzt, erkennt uns sofort. Sie lächelt breit, so sieht man, dass ihr vorne vier Zähne fehlen. Wir geben ihr jedes Mal 100 Forint, obwohl die Toilette oft stinkt und es manchmal kein Klopapier gibt. Neben der Toilette ist ein Stand, wo ich meistens Hamburger kaufe, weil bis zum Nachmittag in meiner Tasche nur eine braun gewordene Banane übriggeblieben ist. Meine Freundin findet meinen Hamburger ekelhaft, sie isst kein Fleisch, seit ich sie kenne. Nach der Pause müssen wir noch zweieinhalb Stunden fahren. Eine Weile reden wir noch, dann deckt meine Freundin ihre Jacke auf die Beine und schläft ein, während ihr Busen weiter hin und her schaukelt. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und schließe meine Augen. Das Fenster ist warm von der Heizung. Es wärmt mein Gesicht, wie die Sonne den Comer See.
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