Der Duft der Kindheit

Etwa 16 Kilometer westlich des Stadtzentrums von Xian liegt das Wohngebiet, das dem staatlichen Unternehmen gehört, bei dem deine Eltern und dein Opa beschäftigt sind. Am Eingang befinden sich Geschäfte und ein Bauernmarkt. Bei Tagesanbruch bauen die Leute Buden auf und verkaufen Frühstück: Sojamilch, frittierte Mehlstangen (You Tiao), gedünsteten klebrigen Reis mit Kidneybohnen und Datteln oder gekochten weichen Tofu, mit Nüssen, Koriander oder Chili bestreut. Der Duft der sprudelnden Sojamilch, das Klappern des Schöpflöffels in einem Topf, das Zischen des Bratens und gedämpfte Stimmen der Leute kündigen den Beginn jedes Tages an. 

Jeden Tag kauft dein Vater das Frühstück. Im Winter geht er im Dunkel heraus und kommt in der Morgendämmerung zurück. Um sieben Uhr brodelt das Wohngebiet. Fast alle Erwachsenen eilen zur Arbeit, entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Vom Eingang aus geradeaus gehend, dann nach rechts abbiegend findet man die Hauptautobahn, die zum Fabrikgebiet führt. Ein Fluss von Fahrrädern schlängelt sich durch den Fahrradweg der Autobahn entlang, bis zum Haupteingang des Unternehmens. Das Klingeln der Fahrräder dringt durch die Luft, so laut, dass man schreiende Vögel und rasende Autos nicht hören kann. Zu dieser Zeit gibt es doch nicht so viele Autos.

Du tunkst You Tiao in heiße Sojamilch, beißt ein Stück von der Spitze ab und hältst den Geschmack in deinem Mund. Nach dem Frühstück nimmst du deine Schultasche, schließt die Tür ab, trägst das Schlüsselband um den Hals und gehst in die Schule. Unterwegs läufst du am Kindergarten vorbei, den du nur einen Tag besucht hast, triffst deine Schulkameraden und suchst nach deinem Opa am Eingang des Krankenhauses, das neben der Schule liegt. 

Dein Vater, als Ingenieur und Abteilungsleiter, fährt schon vor sieben Uhr mit dem Fahrrad ins Büro.  Deine Mutter ist mit deiner Schwester im Kindergarten. Trotz ihres Abschlusses in Landwirtschaft an der Universität hilft sie manchmal im Kindergarten aus. Vielleicht wegen deiner Schwester. In der Zwischenzeit unterrichtet sie Biologie in der Schule. Dein Opa kommt um neun Uhr nach Hause, denn er arbeitet Teilzeit, als Wächter im Krankenhaus, nach seinem Ruhestand. Er kann nicht zu Hause stillsitzen, trotz seiner dicken Rente.

Du bist zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen, weil deine Mutter vom Fahrrad gefallen war. Genauso groß wie die Faust deines Opas warst du. Deine Eltern haben nicht erwartet, dass du das überlebst. Du hättest in einem Brutkasten gelegen, gelbfarbig, so hilflos, erzählt dir deine Mutter immer. Deine Mutter hat viel geweint und bereut, in ihrem Zustand mit dem Fahrrad zum Einkaufen gefahren zu sein. Aber du hast gekämpft und gelebt. Das sei ein Wunder, sagt deine Mutter. Bis deine Schwester zwei Jahre später geboren wird, paddeltest du mit deinem blauen Dreirad mit rotem Sitz überall wie ein wildes Pferd herum.

Deine Familie wohnt in einem Bungalow am Rand des Wohngebiets, eine Seltenheit, da dein Opa nicht in einem Apartment wohnen will. In dieser Ecke findet man sechs Reihen von Häusern. An einer Seite ist der Weg zur Arbeit oder zur Schule und an der anderen Seite begrenzt von einer Backsteinmauer. Hinter der Mauer findet man Äcker und Bauernhöfe.  Du sitzt oft auf der Mauer und siehst reifende Ähren sich im Wind beugen – ein endloses, wogendes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckt. Du siehst Ochsen den Pflug führen und hörst einen Esel I-ah schrillen. Nach einem regnerischen Tag ist ein Teil der Mauer eingestürzt. Du spielst gerade in der Mitte des Wegs zwischen zwei Reihen der Häuser. Ein Pferd rennt durch den Riss zu dir. Deine Mutter schreit und die Nachbarn erstarren vor Schreck. Das Pferd springt über dich und du spielst weiter. Du bist dir des schmalen Grates zwischen Leben und Tod nicht bewusst.

Vor deinem Familienhaus und dem Nachbarhaus ist ein Honigbaum, den dein Opa eingepflanzt hat, als er noch jung war. Der Baum ist riesig, mehr als das Dach. Mit seiner breit ausladenden Krone überspannt er die Häuser schützend. Seine Wurzeln heben einen Teil der Pflastersteine an. Trotzdem ist das dein Lieblingsplatz, unter dem Baum zu lesen oder zu spielen. Dein Opa hat eine Schaukel an einem starken Zweig gehängt. Du schaukelst hoch, um Blätter zu erreichen. Der Himmel zwischen den Blättern ist so blau, dass du dich frei fühlst. Jedoch fiel deine Schwester einmal von der Schaukel und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Von da an fasst sie die Schaukel nie mehr an.

Im August hängen gelblich-weiße, rispenartige Blüten am Baum. Der Duft weht im Wind und füllt die Luft mit einem leichten Honiggeschmack. Deine Nachbarsfamilie hat fünf Kinder. Sie klettern auf den Baum und sammeln die Blüten, mit denen ihre Mutter das Blütenbrot macht. Am Abend essen die beiden Familie zusammen unter dem Baum. Wenn ihre Mutter Blütenbrot serviert, greifen alle Kinder ein Stück und müssen sofort pusten, weil es so heiß ist. Dein Vater bringt der Nachbarsfamilie Mehl oder Reis und sagt, dass es zu viel für euch allein gebe. Reis, Zucker, Mehl und Fleisch sind rationiert. Dein Vater weiß, dass es nicht einfach ist, fünf Kinder zu ernähren. 

Deine Familie hat den ersten Fernseher in der Nachbarschaft gekauft. Wenn es einen guten Film gibt, stellt dein Vater ihn draußen auf den Tisch unter dem Baum. Alle Nachbarn bringen ihre Stühle mit und schauen den Film zusammen an. Du erinnerst dich bis heute an einen Film namens „Gemalte Haut“ über den Geist eines Fuchses. Du kannst in jener Nacht nicht schlafen und träumst von dem Gesicht des Geistes nach seiner Enthüllung und vom blutigen Herzen in seiner Hand. 

Im Sommerurlaub bist du oft mit deinem Opa allein zu Hause. Dein Opa besitzt eine Gartenliege aus Bambus unter dem Baum. Während er mit seinen Kumpeln Schach spielt, legst du dich auf seine Liege und liest ein Buch. Meistens rutschst du in ein Nickerchen hinein, bis dein Opa leicht auf deine Stirn klopft. Du musst Reis kochen, bevor deine Eltern zum Mittagessen zurückkommen. Dein Sommer ist nie langweilig. Du hast mehr als 30 Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen und genießt den Vorteil, dass deine Mutter Lehrerin ist. Du kannst Bücher ausleihen, so viel wie du willst. 

Die Sonne und die Hitze entschleunigen das Tempo des Tages. Zikaden zirpen rau und vehement. Zu dieser Zeit kommt der Baumwoll-Mann. Er kann eine alte Bettdecke neu herstellen. Er nimmt die Baumwolle aus der alten Decke und breitet sie auf einem Holzbrett aus. Mit einem harfenähnlichen Instrument spielt er die lange Saite mit Baumwolle. „Ping, Ping, Ping“. Die rhythmische Musik vibriert zwischen den Häusern. Seine Saite springt rauf und runter auf Baumwolle. In der Luft treiben ein paar Flocken hin und her. Er ist völlig konzentriert und kreist um das Holzbrett unermüdlich. Nach und nach wird die Baumwolle locker und weich. Am Ende drückt er sie mit einem runden Holzklotz flach. Deine Mutter näht die Decke mit der neu gespielten Baumwolle und lässt sie unter der Sonne hängen. Am Abend kriechst du unter der neuen Decke und riechst an der Sonne. Der Duft der Sonne, warm, frisch, sonnig, der beste Duft in der Welt. In deinem Leben versuchst du, diesen Duft zu beschreiben und wahrzunehmen. Dennoch findest du keine Worte. Du musst immerfort alle Bettdecken an einem sonnigen Sommertag nach draußen hängen und entdeckst wieder den Duft der Sonne und ein Stück deiner Kindheit. Dann fragst du deine Kinder, „Habt ihr den Duft der Sonne gerochen?“.

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