Das Haus meiner Großeltern befindet sich in einer langen Gasse innerhalb von An Ding Men, dem nördlichen Tor der Innenstadt Pekings (das Tor der Stabilität). Die An Ding Men Straße läuft wie ein Stamm vom Süden bis zum Norden. An beiden Seiten sind kleine Geschäfte und Markte. Zahlreiche Gassen verzweigen sich im Westen und Osten. In den Sommerferien besuchten meine Schwester und ich oft meine Großeltern, als wir noch in der Grundschule in Xian waren.
Damals öffnete ich die schwere Holztür, die dreimal größer als ich war, trat über die Türschwelle, ging die Steintreppe herunter und tauchte in die stille Gasse. Zwei Minuten entlang der Gasse bis zum Eingang, hörte ich den Lärm des Straßenverkehrs und sah die breite Straße mit hastenden Autos und vorbeifahrenden Fahrrädern. Jetzt bin ich angekommen.
Zu meiner rechten Seite saß mein fünfter Opa auf einem Holzhocker auf dem Bürgersteig vor seinen Werkzeugen. Neben ihm stand eine große rotfarbige Thermosflasche, auf der „Den Menschen dienen“ auf Chinesisch in Gold geschrieben wurde. Er war der jüngste Bruder meines Opas, ein Schuhmacher. Ich nannte ihn „Wu Yeye“ auf Chinesisch. Im Laufe seines Lebens hatte er auch durch die japanische Besetzung hindurch, den Bürgerkrieg und die Gründung des neuen Chinas seinen Beruf ausgeübt. Diese Ecke an der Kreuzung war sein Stammplatz.
Ich begrüßte Wu Yeye und erklärte ihm, dass die Sandale an meinem rechten Fuß unbequem war. Er ließ mich stehen und mit seinen Händen maß er meinen Fuß gegen die Sandalen. Dann brachte er mir einen Klapphocker. Ich setzte mich darauf und zog meine Schuhe aus. Er stellte diese auf ein Eisen, hämmerte ein Loch in den Riemen und ließ mich die Schuhe anprobieren. Ich stand auf und lief ein paar Schritte. „Jetzt ist es besser und ich kann schnell laufen. Danke, Wu Yeye!“
Er hatte das netteste Gesicht der Welt, wie das Gesicht des Buddhas. Seine Frau war gestorben. Sie hatten keine Kinder gehabt und hatten meinen jüngsten Onkel adoptiert. Trotz aller Qualen des Lebens spiegelten sich Frieden, Ruhe und Gelassenheit in seinem Gesicht. Er trug seine Haare kurz und hatte lange schmale Augen, die Mitgefühl und Zufriedenheit ausdrückten. Seine Nase war breit und seine Lippen voll. Außerdem hatte er ein rundes Gesicht, das von der Sonne und vom Wind tief gebräunt, fast schwarzbraun glänzte. Er band sich immer eine schwarze Schürze aus Leder um und trug schwarze Schuhe aus Baumwolle mit weißen Socken. Die Schuhe hatte seine Frau vor ihrem Tod für ihn handgenäht. Seine dunkelbraunfarbigen Hände hatten dicke Finger. Als er meine Hand hielt, war seine Hand rau, aber zärtlich warm.
Während er Taschen oder Schuhe reparierte, beobachtete ich die vorbeigehenden Leute. Um es genauer zu sagen, ihre Beine und Füße. Langweilige Hosen, blau, schwarz, grün und grau. Langweilige Schuhe, flach, schwarz oder blau. Dicke Füße, schmale Füße, kleine Füße, geschwollene Füße. Interessant, keine Füße waren gleich. Noch lustiger war die Art des Gehens. Schleppender Schritt, hastiger Schritt, trippelnder Schritt, springender Schritt, Entenfußschritt. Plötzlich sah ich zwei schimmernde Beine in zwei weißen Ledersandalen mit niedrigem Absatz. Wie konnte die Haut so makellos sein? Ich war wie betäubt und hob meinen Kopf. Auf der Straße schlenderte eine blonde Frau, groß, schlank, in einem weißen Hemd und einem bis zu dem Knie reichenden geblümten Rock. Nichtsdestotrotz lag meine Konzentration auf ihren Beinen. So rutschig, haarlos, wie ein Stück goldene Seide. Mein Wu Yeye winkte seine linke Hand vor meinen Augen und klopfte auf meine Schultern. „Yingchun, das sind Strumpfhosen. Im Westen, vielleicht in den USA tragen Frauen sie“, lächelte er mich an. „Was ist eine Strumpfhose? Wo ist der Westen“, dachte ich angestrengt nach. Peking war doch die Hauptstadt und ich kam aus Xian, einer kleinen Stadt.
Wu Yeye versank wieder in die Arbeit. Seine Hände bewegten sich geschickt. Neben ihm lagen die zu reparierenden Schuhe, Taschen und Portemonnaies. Oft kam eine Frau vorbei mit kaputten Schuhen. Ich musste aufstehen und gab ihr meinen Platz. Wu Yeye würde mir eine Münze in die Hand stecken, „Kauf dir ein Eis!“. Seine Stimme war tief. Am Ende des letzten Wortes verlängerte er die letzte Silbe. Der musikalische und heilende Klang entzückte mich. Bei der Tante nebenan kaufte ich mir ein Eis am Stiel aus roten Bohnen.
Jahre später fing ich an, in Peking zu arbeiten. Meine Großeltern und mein fünfter Opa sind schon gestorben. Im alten Haus wohnt jetzt mein jüngster Onkel mit seiner Familie. Strumpfhosen trage ich selten, weil ich sie unbequem finde oder meine Beine nicht atmen können. Jedes Mal wenn ich meinen Onkel besuche, suche ich die Stelle auf dem Bürgersteig, die meinem Wu Yeye gehörte, und sehne mich nach ihm, seiner Stimme und dem Eis aus roten Bohnen.
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