Ein schöner Mensch

Jeden Tag ist er da. Auf Gleis 1, um 12:40. Jeden Tag steht er an derselben Stelle, an der Ecke bei den Rolltreppen. Jeden Tag hält das vordere Ende des Zuges dort. Er ist bereit, er steigt durch die erste Tür ein. Da gibt’s genug Platz für ihn.

Er kommt immer mit einem Rollator. Der Rollator ist alt, alt wie er. Das Sitzteil ist schon lange weg. Einmal lösten die Schrauben sich, gerade als er durch die erste Tür einstieg. Das Sitzteil fiel runter auf den Bahnsteig am Gleis 1. Am nächsten Tag war das Teil nicht mehr da. Doch braucht er es nicht. Er kann ja auf den vielen Bänken sitzen, wenn er will. 

Eines der vier Räder wackelt, wenn er seine Stütze nach vorne stößt. Es stört ihn ein bisschen, ab und zu. Die Wackelei. Sonst kann er es ignorieren. Wenn es regnet oder schneit, dann ist die Wackelei ärgerlich.

Wenn der Zug sich seiner Haltestelle nähert, steht er auf und geht zur Tür. Jeden Tag ist er der Erste, der aussteigt. Die Tür ist immer bei den Rolltreppen. Er will der Erste auch auf der Rolltreppe sein, mit seinem Rollator. Oft gelingt es nicht. Die jüngeren Leute haben es eilig und gehen an ihm vorbei. Das ärgert ihn nicht. Er weiß, was er tut. Es ist so leicht, die wichtigen und eiligen Leute zu hänseln. Er lächelt, aber nur innerlich. Den Leuten zeigt er sein mürrisches Gesicht.

Zuhause erzählt er seiner Frau, was in der Stadt los war. Jeden Tag lächelt seine Frau und gießt ihm Kaffee nach. Immer dieselbe Geschichte, denkt seine Frau und gießt den Kaffee ein. Das macht sie glücklich, sowieso, und zufrieden. Sie will die Geschichte hören. Sie weiß dann, dass alles wie früher ist.

Jeden Tag hat sie Angst, dass er einmal nach Hause käme und die Geschichte nicht mehr erzählte. Etwas hätte sich geändert. Das wollte sie nicht. Sie will das nicht denken. Sie schaut ihren Mann an, lächelt und gießt ihm mehr Kaffee ein. Jeden Tag.

Foto: PxHere

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