Der Gesang meines Vaters

Ich schiebe die Terrassentür auf und atme die feuchte Luft eines lauen Sommerabends. Vor mir die hohe Mauer der Verbotenen Stadt. Ich bin mit Kollegen auf einer Party im teuersten Restaurant Pekings, direkt gegenüber dem damaligen Kaiserpalast. Hier treffen sich die Reichen und Mächtigen. Man raucht Zigarre, trinkt Cognac und tauscht sich über Investitionen aus. Ich bin gelangweilt nach draußen gegangen und sehe nun unter gedimmten Lampen die Leute wie in einem Stummfilm. Gesichter strahlen, die Münder bewegt. Worüber sie sprechen, höre ich nicht. Der Mond reist durch die Wolken und beleuchtet den wie einen Grillenkäfig geformten Wächterturm an der Ecke. Seine geschwungenen Dächer malen perfekte Bogenlinien an den dunkelblauen Nachthimmel. Die Straßen sind menschenleer. Nur die Bäume werfen Schatten im Licht der Straßenlampen. In einiger Entfernung vom Restaurant leuchtet ein Kiosk. Vor dem Laden sitzt ein Mann in kurzen Hosen und ärmellosem T-Shirt an einem Klapptisch. Ihm gegenüber isst eine Frau in Schlafanzug mit buntem Blümchenmuster eine Scheibe Wassermelone. Auf dem Tisch spielt ein Radio. Der Mann lauscht. Sein Kopf nickte und seine Sandale am rechten Fuß wippen mit der Melodie. Ab und zu schlagen seine rechten Finger auf den Tisch, gleichmäßig wie ein Metronom. Die Musik ist leise, aber sie klingt vertraut für mich. Ich schieße meine Augen und habe den Klang im Ohr. Das ist das Lieblingsstück meines Vaters, „Rückkehr des Fischers durch Regen und Wind“, eine klassische Peking Trommeloper. 

In meiner Kindheit summte mein Vater die Melodie, während er kochte, das Fahrrad reparierte oder mit mir im Wald spazierte. Er hatte mir von seinem Leben in Peking erzählt und der Musik, die Trommeloper Peking. 

Mit 61 starb er an Herzinfarkt. Als ich zurückflog, lag er in einem kalten Loch eines Krankenhauses. Ich war wütend. Ich wünschte mir ein paar Minuten, um seine Stimme zu hören. „Du solltest nicht mit diesen Leuten ausgehen. Sie sind keine guten Menschen. Sei nicht ein Sklave des Materials. Sei ein Besitzer deiner selbst. Du solltest lesen und nachdenken.“ Das wollte er mir sagen. 

Vor dem Kiosk steht der Mann auf und mimt das Trommelspielen mit seiner Hand. So machte mein Vater es auch. Der Mond hängt hoch über dem Wächterturm. Ein Stern leuchtet hell neben ihm. Ist mein Vater oben und beobachtet mich?  Er sagte mir einmal, nach dem Tod werde man zu einem Stern am Himmel, und jede Sternschnuppe sei eine fliegende Seele. Ich suche nach ihm unter den Sternen.

Jedes Wochenende reinigte er mein Fahrrad und sang das Stück.  Er war der beste Koch. Er hatte eine Pfanne aus Eisen und machte Pfannkuchen in Form einer Blume. Beim Angeln saß er stundenlang am Fluss, singend. Meine Ohren und mein Traum waren schon geprägt von der Melodie und dem Text. 

„Durch Berge und Wald, schreit der Wind seine Wut, kalt, kalt, kommt ein Sturm bald. Es blitzt und donnert. Der Fischer rudert über wilde Wellen. Der Wind schüttelte Bäume und Gebüsche. Dörfer, Berge und Wald sind in Dunkelheit. Keine Zeit, Fische gegen Wein zu tauschen. Das Boot, schaukelt wie ein schwimmendes Blatt, links und rechts, hoch und runter. Endlich findet das Boot ein Ufer. Der Fischer sieht einen weinenden Jungen im Regen. Während eines langen Nickerchens lief seine Kuh weg. Jetzt sucht er sie.“ 

In diesem Lied war die Sehnsucht nach seiner Heimat. Mein Vater wurde in einem Hofhaus in der Innenstadt Pekings geboren.  Nach seinem Hochschulabschluss verließ er Peking, um den Unternehmen in anderen Städten zu unterstützen. In Xian heiratete er dann meine Mutter und kehrte nie wieder nach Peking zurück. Ein Stück seiner Seele und seines Herzens hat Peking aber nie verlassen.  Mit mir sprach er darüber nie. Ich sah das Licht in seinen Augen, als er sang. Als Kind hatte ich mir versprochen, in Peking zu leben, wenn ich groß sein würde. 

Irgendwann wurde unsere Beziehung voller Spannungen. Irgendwann kritisierte ich meinen Vater mit scharfen Worten.  Irgendwann hörte er mit dem Summen auf. Irgendwann schwieg er. 

„Du bist heuchlerisch. Warum bist du Partei-Mitglied, wenn du nicht daran glaubst? Du sagst mir, dass ich mich niemals in der Politik einmischen soll? Warum brauchst du die Beziehung?  Ich brauche sie nicht. Ich kann mit meinen Fähigkeiten meinen Platz im Leben finden.“ Mein Vater seufzte, „Naja, du lebst in dieser Gesellschaft. Lotus wächst aus dem Schlamm mit Stolz. Warte, bis du arbeitest.“  Nach und nach sprachen wir nicht so viel wie früher.  Wir mieden einander. Er ging angeln, egal ob es regnete, schneite oder die Sonne knallte. Nachdem ich dank der Beziehung meines Vaters eine Stelle bei der Regierung in Peking gefunden hatte, brachte er mich zum Bahnhof. Als der Zug beschleunigte, stand er immer noch am Gleis, wurde kleiner und kleiner, und verschwand im Horizont. Ich bereute mein Verhalten so sehr, dass ich mich bei ihm entschuldigen wollte. 

Danach besuchte ich meine Eltern ein Mal pro Jahr. Ich lud meinen Vater ein, mich zu besuchen. Er zögerte und wollte mein neues Leben nicht stören. Das letztes Mal, als ich ihn das Lied singen hörte, war bei einem Spaziergang. Er war im Ruhestand. Er teilte seine tägliche Erfahrung des Angelns mit mir. Er redete von seinem Traum.  „Ich brauche nichts.  Nur ein Haus auf dem Land, wo ich Gemüse anbauen, Fische fangen kann. Ja Bücher zu lesen, darauf kann ich nicht verzichten. Aber deine Mutter ist damit nicht einverstanden. Ich habe das Stadtleben satt.“ Er träumte und begann das Lied zu singen. Ich bemerkte, dass er alt geworden war. Seine Haare waren grau weiß und sein Bauch war nicht mehr so glatt wie früher. Die Falten eroberten sein Gesicht. Er wollte der Fischer im Lied sein. War er glücklich mit seinem Leben?  Das werde ich nie erfahren. Wir schwiegen über die Liebe und er über seinen Zweifel in der Wendezeit. Er wollte eine Entschleunigung in dieser Welt, die wie ein Hamsterrad drehte. Aber ich weiß genau, dass er mich mehr als sich selbst liebte. Sechs Monate später lebte er nicht mehr. Er ist jetzt glücklicher in der Ewigkeit und lässt uns kämpfen, um Geld oder um Ruhm? Eigentlich wollte ich auch Fischer werden, wie er. 

„Jenny, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich mein Kollege und unterbricht meinen Gedanken. „Hast du geweint?“  „Nein, nein, das ist nur ein Insekt im Auge“, antworte ich leise. Drinnen ist es laut. Durch die offene Tür höre ich das Kichern der Frauen und laute Geräusche von den Männern. „Das ist so langweilig. Sollen wir nach Hause gehen?“, fragt er mich. „Ja, es ist nicht so spät, können wir einen Spaziergang machen?“, schlage ich vor. 

Wir verabschieden uns von den anderen. Schweigend gehen wir die Palastmauer entlang. Ich höre den Gesang in meinem Kopf und habe das Gefühl, dass mein Vater dabei ist. In dieser Nacht sehe ich meinen Vater in meinem Traum.  Er ist vor mir und guckt mir zu. Sein Mund bewegt sich, als ob er mir etwas sagen wollte. Ich laufe zu ihm und will ihn umarmen, aber kann ihn nicht erreichen. Dann wache ich auf und mein Kopfkissen ist nass von Tränen.

Foto: www.pixabay.com

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