Der magische Ort

Der alte Jeep zuckelt auf dem humpeligen, unbelebten Weg. Die heißen Sandkörner krallen sich in die Reifen. Staub fliegt durch die offenen Fenster  und blendet uns. Wir spritzen lauwarmes Mineralwasser auf die Windschutzscheibe, um den Sand abzuwaschen. Der Scheibenwischer pendelt links und rechts, wie eine umgedrehte Wanduhr. Es dauert zwei Stunden bis wir auch den letzten Hügel besiegen. Olivenbäume umgeben den schmalen Weg, den wir hinunterfahren. Die Äste kleben am Jeep wie Parasiten und verdunkeln die Fenster. Nachdem wir alle Bäume hinter uns gelassen haben, kommen wir endlich an.

Ich steige aus dem Wagen. Kein Zweifel: Da ist er. Ich nähere mich langsam. Seine ungezügelten Wellen schlagen ununterbrochen an die Küste und fressen den weichen Sand. Keine Sonne und kein Mond am Himmel. Er schluckt die Zeit. Er ruft die Wolken zu sich und schickt sie wieder fort. Er ist unruhig. Er ist Menschen nicht gewöhnt.

Als seine Wellen endlich Ruhe finden, ziehen wir uns auf die kleine Steinhausterasse zurück, um ihn heimlich weiter zu beobachten. Sein Anblick verblasst zeitweise im Dampf des marokkanischen Tees. Tassen sammeln sich auf dem Tisch. Der heiße Tee vernichtet die unregelmäßig geformten Zuckerstückhen. Der Duft der Minze schlängelt sich nach oben, bricht sanft durch das Schilfrohrdach und verschwindet im grauen Himmel.


Für die Nacht bleibt die Tür des alten Steinhauses einen Spalt offen. Wir hören wie er seine Wellen an die Küste schickt. Sie breiten sich auf dem Boden aus, wie eine riesige Tischdecke, die man auf den Tisch wirft. Mit magischer Stimme flüstert er die ganze Nacht. Von allem, was ich je gesehen oder gekannt habe, an diesen Moment will ich mich am längsten erinnern.


Am nächsten Tag klettern wir auf einen großen Felsen, um ihn von oben zu sehen. Unter unseren Füßen ist nichts außer endlose Tiefe. Winzige Steine fallen nach unten. Sie springen freiwillig in die große Bläue. Er bummert wütend mit seinen schaumigen Wellen an den Felsen. Er will ihn aus dem Boden reißen und in die Tiefe stürzen. Er ruft uns. Er will auch uns haben. Aber mir fehlt der Mut zu springen.
Die Reifen des alten Jeeps zeichnen schlängelnde Linien in den Sand. Sie sind die letzten Spuren, die wir hinterlassen. Er folgt uns noch eine Weile im Seitenspiegel dann verschwindet er.

Unter dem Fenster der Münchner Wohnung beeilen sich Menschen in dunkelfarbigen Anzügen in die Arbeit zu kommen. Sie tragen ihr ganzes Leben in eckigen Aktentaschen. Das DHL Auto rollt eilig durch die Straße. Es muss seine Pakete so schnell wie möglich zum Ziel bringen. Der Fernseher der Nachbarwohnung redet pausenlos und ertränkt uns in der Flut der Informationen. Ich ziehe die Jalousie herunter. Das Zimmer fällt in Dunkelheit. Ich gehe wieder ins Bett und quetsche Stöpsel in meine Ohren. Ich gehöre nicht hierher.

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