Traumkleid

Ich sitze auf Mamas Schoß und beobachte all die Leute, die mich umringen. Eine alte Dame mit komischer Brille, einen dünnen Mann, der böse zurück starrt. Ich wende meinen Blick zur Seite und höre auf, mit meinen Beinen zu baumeln. An jeder Haltestelle, und es waren schon viele, steigen die Leute ein und aus. Aber wir fahren weiter.

„Lass dich überraschen“, hat Mama gesagt. Und da sitzen wir in der Metro und fahren in die Stadt. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das das letzte Mal gemacht haben. Dort arbeitet eine Bekannte von Mama. In einem Haupteinkaufszentrum.

Endlich steigen wir aus. Nach einem kurzen Spaziergang tauchen wir in das warme, lecker duftende Einkaufszentrum ein. Das Gebäude ist riesig. Wir steigen mehrmals von einer Rolltreppe zu der anderen, bis wir endlich eine Kinderabteilung erreichen. Es hängen so viele Kleidungsstücke da, dass ich staunen muss.

„Ach, da ist nichts Besonderes“, sagt eine kräftige Dame, die einen schicken roten Rock trägt, und lächelt uns zu. Das ist Mamas Bekannte. Sie führt uns in das Innere des Ladens, hinter die Kulissen, wie sie sagt. Dort wühlt sie in einem riesigen Karton und holt ein hellblaues Bündel. Als sie es ausrollt, stockt mir der Atem. Es ist ein Kleid, ein traumschönes Kleid, das bestimmt einer Prinzessin gehören sollte. So eines habe ich noch nie gesehen.

„Probier mal“, sagt die Bekannte und reicht es meiner Mama, die mir hilft das Kleid anzuziehen. Es ist wie für mich bestimmt. Und da entdecke ich einen schmalen Spiegel an der Wand. Ich drehe mich schnell um mich herum. Der seidige Rock hebt sich in Wellen wie eine blaue Sonne. Ich stelle mir vor, wie ich im Ballsaal eines Schlosses tanze. Da kommt ein Prinz und bewundert mein schönes Kleid. Seine Augen nur auf mich gerichtet.

Mama und die Bekannte lachen laut. Dann bedankt sich Mama bei der Bekannte, die wieder an die Arbeit muss. Wir fahren nach Hause. Es ist noch kalt draußen und leider darf ich das Kleid nicht anhaben. Es liegt in Mamas Tasche.

In die Schule darf ich es auch nicht anziehen. Dort muss man die langweiligste Uniform der Welt tragen. Ein kackbraunes Kleid aus kratziger Wolle.

„Im Sommer darfst du es öfter anziehen“, lächelt meine Oma zu Hause.

Ich stelle mir vor, wie alle meine Freundin vor Neid platzen und seufze. Bis zum Sommer dauert es noch ewig. Dann denke ich an den Nachbarjungen, den rothaarigen Sascha, der drei Jahre älter ist. Ob er mich in dem Kleid bemerken wird?

Endlich ist es soweit. Heute ist der letzte Tag in der Schule. Morgen fahren wir mit der ganzen Familie zu unserer Datsche. Hurra! Drei Monate höre ich von der Schule nichts und habe nur tagelang mit meinen Freundinnen Spaß. Als erstes packe ich mein Prinzessin-Kleid ein. Ich kann es kaum noch erwarten.

Natürlich regnet es am nächsten Morgen. Als wir da sind, zündet meine Oma den Ofen an und ich langweile mich zu Hause. Meine Freundinnen sind sowieso noch nicht angereist.

Als der große Tag kommt, zittere ich vor Aufregung. Die Sonne scheint, aber es ist noch frisch. Trotzdem ziehe ich meinen Traum an und gehe in den Garten. Ich laufe herum, rede mit meiner Oma extra laut und lache ständig. Ob der Nachbarjunge mich sieht?

Bald kommen Julia und Natascha.

„Hui!“ staunen sie gleichzeitig. Ihre Augen weiten sich.

Natascha tastet den Seidenstoff, Julia bewundert die kleine Glitzersteine an der Brust. Aus dem Augenwinkel merke ich, dass der Nachbahrjunge endlich aufgewacht ist. Er spielt Ball hinter dem Johannisbeerbusch. Ich werde rot.

„Schaut mal“, rufe ich zu meinen Freundinnen viel lauter als nötig und drehe mich. Wieder umringen mich die hellblauen Wellen und Natascha und Julia kreischen anerkennend.

Wir spielen den ganzen Tag zusammen, in unserem Garten, im Wald am Ende der Straße und auch in dem kleinen Häuschen, das Nataschas Eltern für sie gebaut haben. Als ich nach Hause gehen will, merke ich, das auf dem seidigen Rock genau in der Mitte ein großer schwarzer Fleck prangt.

„Ach du heiliger Himmel!“ Mir ist schwindelig vor Panik. Ich war den ganzen Tag so vorsichtig! Was wird bloß die Oma sagen…

Wir drei laufen hinter den Schuppen, wo eine Wassertonne steht. Ich zieh den Saum hoch und versuche den Fleck abzuwischen. Aber er geht nicht weg. Er ist komisch ölig und riecht nach Eisenbahnschwelle. Ich reibe und reibe und reibe. Natascha bringt mir Seife aus dem Haus. Irgendwann ist er nicht mehr so schwarz. Man sieht den Fleck fast nicht mehr. Leider ist die Himmelsfarbe an der Stelle auch abgegangen. Und es gibt kleine Risse zwischen den Seidenfäden. Aber Hauptsache ist, es gibt keinen schwarzen Fleck mehr an dem Kleid. Ich laufe noch lange hin und her und flattere den Rock, um ihn zu trocknen, bis ich höre, wie mich meine Oma ruft. Ich schleiche ins Haus und ziehe mich gleich um. Das Kleid verstecke ich im Schrank. Für immer.

Foto: www.pixabay.com

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